Am Münchener Gärtnerplatztheater gedeihen bei dieser Inszenierung der Rossini-Oper "Der Barbier von Sevilla" vor allem Kakteen, Schwebfliegen und Schlitzohren. In der Hitze der Nacht und der Leidenschaften entledigen sich die meisten der Moral, was vergnüglich anzusehen ist – meint zumindest BR-KLASSIK-Autor Peter Jungblut, der bei der Premiere am 8. Juli anwesend war.
Andalusien schwitzt unter der Sonne der Liebe: In Sevilla steigen die Temperaturen derzeit Tag für Tag auf vierzig Grad und mehr. Es geht also in Ordnung, wenn sich die Bauarbeiter dort ständig die Hemden vom Leib reißen und sich halbnackt etwas Luft zufächeln, bevor sie verzückt mit einer Cola hantieren. Dabei hat gar keiner "Ausziehen!" gerufen, höchstens gedacht. Alle übrigen freilich scheinen von der Hitze nicht sonderlich beeindruckt: Der Barbier behält seinen schicken Anzug ebenso an wie die Soldaten ihre Uniform. Und die hohen Herrschaften werden allenfalls von den vielen Mücken gepeinigt, die herumsurren. Da hilft auch keine Sprühflasche.
Regisseur Josef E. Köpplinger und sein Ausstatter Johannes Leiacker zeigen also ein etwas unwirtliches Südspanien. Dass hier vor allem Kakteen mit imposanten Stacheln und Unmengen von Schwebfliegen gedeihen, macht Sevilla auch nicht gerade heimelig. Sieht aus wie eine Wüstenmetropole, hat mehr mit Las Vegas oder dem fiktiven Sündenbabel Mahagonny zu tun als mit Flamenco. Und so sind denn auch ständig die Prostituierten unterwegs, die mexikanischen Mariachi-Musikanten und eine furchteinflößende, schwer übergewichtige Metzgerfamilie, die offenbar die vergoldeten Steaks für diese ausgelassene Amüsiermeile heranschafft. Selbstredend wird mit bündelweise Geld um sich geworfen.
Regisseur Köpplinger und Dirigent Michael Brandstätter kommen jedoch wunderbar mit Gioacchino Rossinis umwerfender "Relativitätstheorie" zurecht. Lange vor Albert Einstein hat der Komponist nämlich entdeckt, dass sich die Zeit dehnen und stauchen lässt. So kann eine "Schreck"-Sekunde bei Rossini mal zehn Minuten dauern, und dann werden zehn Minuten in einer einzigen Sekunde abgehakt. Die Handlung bleibt also mal stehen, und rast dann unvermittelt wie ein Tornado voran. Wenn Rossini nicht in der Lage gewesen wäre, die Zeit nach Belieben anzuhalten, hätte er diese Oper auch kaum in 13 Tagen komponieren können. Soviel Rasanz ist schwer zu inszenieren und zu dirigieren.
Der kroatische Bariton Matija Meić ist stimmlich wie schauspielerisch ein wunderbar agiler Barbier, der für seine Auftrittsarie auf einer roten Vespa vorfährt und wirklich alles unter Kontrolle hat. Der ungarische Tenor Gyula Rab als Graf Almaviva ist etwas sehr harm- und konturenlos als gerissener Liebhaber, eher ein braver, verschüchterter Edelmann. Dagegen erweist sich Jennifer O'Loughlin als Mündel Rosina als resolute, sogar kampfstarke Amazone, die sich nichts vorschreiben lässt. Auch die übrigen Sänger, darunter Levente Páll als Don Bartolo und Timos Sirlantzis als Don Basilio, sind mit ungewöhnlich großem Eifer dabei. Und die vielen Statisten machen aus ihren Auftritten wahrlich eindrucksvolle Charakterporträts, wie sie selten zu erleben sind. Ein Sommerspaß, nicht nur für Kakteenliebhaber.
Informationen über Termine, Besetzung und Vorverkauf erhalten Sie auf der Homepage des Gärtnerplatztheaters.
Sendung: "Allegro" am 9. Juli 2021 ab 6.05 Uhr auf BR-KLASSIK