100 Jahre skandalfrei? Das wäre ja wohl etwas langweilig. Und langweilig waren sie selten, die Salzburger Festspiele. Das lag nicht nur an den Inszenierungen, die das Publikum auf die Barrikaden brachten. Vor allem hinter der Bühne ging es hoch her. Übrigens weniger hinter der Opernbühne. Mehr Theater war im Theater.
Der Pass sei der edelste Teil eines Menschen, schreibt Bertolt Brecht 1941. In seiner Situation durchaus verständlich: Der Dichter lebt damals im Exil, erst in Dänemark, später in den USA. Die deutsche Staatsbürgerschaft haben ihm die Nazis schon 1935 aberkannt. Und auch nach dem Krieg bleibt Brecht zunächst staatenlos. Überaus unpraktisch für einen reisenden Künstler. Ideal wäre ein österreichischer Pass: Der würde es Brecht nämlich erlauben, in allen Besatzungszonen, und also auch in allen deutschsprachigen Theatern zu arbeiten. Für den auf Wirkung bedachten Dramatiker eine wichtige Sache. "Ich kann mich ja nicht in irgendeinen Teil Deutschlands setzen und damit für den anderen Teil tot sein", schreibt er 1949 an Gottfried von Einem.
Gottfried von Einem ist mit diesem Vorschlag einverstanden und lässt seine Beziehungen spielen. Im April 1950 klappt es schließlich: Brecht erhält die österreichische Staatsbürgerschaft. Zu diesem Zeitpunkt lebt und arbeitet er aber schon längst in Ost-Berlin, also in der DDR. Ein gefundenes Fressen für die Kritiker an der Salzach. Als der Kuhhandel öffentlich wird, kommt es zum Eklat. Die Salzburger Nachrichten vermelden: "Kulturbolschewistische Atombombe auf Österreich abgeworfen", und machen aus ihrer Weltsicht keinen Hehl: "Warum Bert Brecht, der zum verspäteten Landsturm des kommunistischen Avantgardistentums gehört, heute ausgerechnet auf Salzburg blickt, wohin er passt wie der Dieselmaschinist ins Oratorium, ist zunächst unerfindlich. Es gilt vielmehr nachzusuchen auf welchen Weg der Edelmarder in den Salzburger kulturellen Hühnerstall eingebrochen ist."
Bernhard und Salzburg: Diese Geschichte gleicht eher Szenen einer (unglücklichen) Ehe. Schon bei seinen ersten Festspielen kracht es. 1972 steht endlich ein Drama von Thomas Bernhard auf dem Programm. Eine Uraufführung sogar. Claus Peymann inszeniert "Der Ignorant und der Wahnsinnige". Die Aufführung soll nach Plan des Regisseurs in völliger Dunkelheit enden. Ein Plan, der beinahe aufgeht bei der Premiere. Aber eben nur beinahe. Das Saallicht erlischt, das Notlicht glimmt weiter. Und voilá: Salzburg hat seinen "Notlichtskandal". Wie die Wahnsinnigen ärgern sich der Autor und sein Regisseur über die Salzburger Ignoranz. Finster hätte es sein sollen: schwarz, lichtlos, zappenduster! Doch der Brandschutz bockt. Die Festspielpremiere von Thomas Bernhard endet im Eklat. Eine Gesellschaft, die zwei Minuten Finsternis nicht vertrage, komme auch ohne sein Schauspiel aus, entscheidet der Dichter. Und rauscht davon.
Nie mehr Salzburg, tönt der Dramatiker nun im ORF. Die Festspiele seien für ihn eine "erledigte Sache". In seiner etwa zeitgleich erscheinenden Autobiographie "Die Ursache" wird Bernhard noch deutlicher. Salzburg, so heißt es hier, sei "eine perfide Fassade, auf welche die Welt ununterbrochen ihre Verlogenheit malt und hinter der das (oder der) Schöpferische verkümmern und verkommen und absterben muss."
Aber apropos "verkümmern und verkommen": So ganz hat sich Bernhard das Schöpferische dann doch nicht austreiben lassen, von der Stadt und ihren Festspielen. Nicht weniger als drei Uraufführungen werden hier noch folgen: "Am Ziel" (1981), "Der Theatermacher" (1985) und "Ritter, Dene, Voss" (1986).
Salzburg hat offenbar gelernt, Bernhards Städtebeschimpfung als das zu nehmen, was sie ist: Schmähsport.
Sendungen:
"Allegro" am 05. August 2020 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK
"Allegro" am 10. August 2020 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK