Eine Freiheitsheldin in Cargo-Hosen und derben Stiefeln: Dieser Abend passt eher nach Berlin-Neukölln als nach Andalusien, und die Liebe ist so unglaubwürdig wie die Eifersucht. Gleichwohl gab es herzlichen Beifall – und eine berührende Geste.
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Ziemlich unterkühlt dieses Sevilla: Da können die Andalusier eine Jacke vertragen, oder auch zwei. Aber auch das scheint nicht wirklich zu helfen: Es wird unentwegt gequalmt, und hier und da flackert auch ein Feuerchen im Ölfass. Normalerweise finden Stierkämpfe ja im Sommer statt, aber in dieser "Carmen" herrscht zumindest gefühlsmäßig tiefer Winter. Und so stapft die Titelheldin denn auch in derben Stiefeln und auf Profilsohlen durch ihre tragische Geschichte, statt wie sonst oft zu sehen auf hohen Absätzen. Bisweilen wirft sie sich Lederjacken über, mal rot, mal abgewetzt und schwarz: Eine Anarchistin?
Regisseurin Vera Nemirova hatte offenbar null Bock auf Flamenco, obwohl sie drei Tänzerinnen mit Fächern und Rüschenkleidern auftreten lässt, aber ihre Carmen passt eher nach Berlin-Neukölln als unter die heiße Sonne des Südens. Arbeiten geht diese Freiheitheldin allem Anschein nach nicht, bei Georges Bizet schuftet sie ja in einer Tabakfabrik. Hier jedoch schlurft sie in Cargo-Hosen herum, trägt ein T-Shirt mit Totenkopf-Applikation (war vor ein paar Jahre mal modern) und ist eher ein Männerschreck als eine Projektionsfläche für deren sexuelle Fantasien.
Ehrlich gesagt haben hier eigentlich nur die Soldaten ein Herz, allen voran der aufgeblasene Leutnant, die Übrigen sind offenbar dem Kokain und dem Geld verfallen. Eine merkwürdig bizarre Deutung. Das Bühnenbild von Heike Scheele allerdings ist poetischer als die Personenregie: Sie zeigt ein verfallenes Theater, dessen verstaubte Requisiten an der Seite vor sich hin modern. Und der Flüchtlingstransport im Container erfolgt unter dem kalten Licht eines düsteren Sternenhimmels. Warum abgehackte Stierköpfe herumgetragen werden, ist ein Rätsel: Wer jemals in der Arena war, der weiß, dass den toten Tieren für den Triumphzug des siegreichen Toreros allerhöchstens die Ohren oder der Schwanz abgeschnitten werden.
Wie auch immer: Musikalisch gab es ebenfalls erhebliche Fragezeichen. Dirigent Guido Johannes Rumstadt galoppierte von der Ouvertüre an recht geschwind und lautstark durch die Partitur, bisweilen ans Oberflächliche und Grelle grenzend. Nun passen kräftige Farben zweifellos zur "Carmen", doch in diesem Fall klangen sie zu oft pauschal und unbeteiligt. Die australische Mezzosopranistin Anna Dowsley in der Titelrolle war eine grandiose Schauspielerin mit herber, charaktervoller, aber nicht verführerischer Stimme, und der aus Warschau stammende Tenor Tadeusz Szlenkier wirkte von Beginn an sehr angestrengt und metallisch, musste gegen Ende auch stimmlich ein paar Abstriche machen. Der südkoreanische Bariton Sangmin Lee als gefeierter Matador Escamillo überzeugte dagegen mit seinem warmen, souveränen Ausdruck, auch wenn er schauspielerisch für so einen Macho viel zu vornehm zurückhaltend war.
Vera Nemirova legte zum Beifall eine Rose auf den Souffleurkasten, sichtlich ergriffen. Grund dafür: Ihre Mutter, die einstige Sängerin Sonja Nemirova, die an dieser Inszenierung wie an vielen anderen Regiekonzepten mitgewirkt hatte, ist am 13. August in Sofia gestorben. Die Rose war ein letzter Gruß, eine traurige Geste - und das war von berührender Schlichtheit.
Sendung: "Allegro" am 4. Oktober 2021 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK