Am 27. Oktober hatte Lotte de Beers "Don Carlos"-Neuproduktion in Stuttgart Premiere. Es ist keine gewöhnliche Inszenierung: Der Regisseurin gelingen faszinierende Charakterstudien bei ihrer Verdi-Deutung – zum Beispiel ein verblüffend umgänglicher Großinquisitor und ein überaus reinlicher König Philipp als faschistischer General. Die Düsternis ist von beklemmender Intensität.
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Nerven hat er, dieser Großinquisitor: Seelenruhig verspeist er einen Apfel, während um ihn herum alles durchdreht. Der Mann hat ganz offensichtlich viel gesehen, viel erlebt und wundert sich über gar nichts mehr, schon gar nicht über Weltverbesserer. Denn die Welt ist doch sowieso nicht mehr zu retten, allenfalls die Seelen. Und um die kümmert sich der Großinquisitor so liebevoll, dass er für jeden Ketzer ein Küsschen übrig hat, bevor es zur Hinrichtung geht. Knutschen für Gott und Spanien sozusagen.
Wirklich großartig, wie Falk Struckmann diesen allmächtigen Kirchenmann im Stuttgarter "Don Carlos" spielt: nicht als gebrechlichen, verhärmten und blinden Eiferer, sondern als freundlichen, älteren Herrn, der es mit allen gut meint und davon überzeugt ist, dass er manche Menschen vor sich selbst schützen muss – wenn es sein muss, sogar den König. Der wird von ihm so leidenschaftlich geküsst, als ob sich Honecker und Gorbatschow in den Armen liegen. Und es sieht auch genau so bizarr aus.
Mag sein, dass an dieser stark idealisierten Figur zu merken war, dass eine Frau inszeniert hat, wenngleich es insgesamt gewiss keine feministische Deutung war. Allerdings eine, die eindrücklich vorführte, wie systematisch schon die Kinder in einer Gewaltherrschaft abgerichtet und dressiert werden. Philipp II. tritt hier als faschistischer General auf, der sich gern die Hände parfümiert, bevor er sie in den schwarzen Lederhandschuhen verschwinden lässt. Vor der Ketzerverbrennung Wert legt er wert auf eine liturgische Waschung. Es sind solche Details, die diesen "Don Carlos" so spannend und beklemmend lebensnah machen.
Als ob es nicht reicht, dass es schon sieben Fassungen von Verdis "Don Carlos" gibt, fügte Stuttgart noch eine achte hinzu. Dirigent Cornelius Meister ergänzte die Ballettmusik um eine "Pussy-Polka" des Komponisten Gerhard E. Winkler, wobei damit die russische Protestgruppe "Pussy Riot" gemeint ist, deren lautstarke Auftritte hier mit Trillerpfeifen und Kettenrasseln vertont wurden. Inwieweit die sehr provokanten Frauen für Geistesfreiheit kämpfen, ist ja sehr umstritten. Auch eine selten zu sehende Eröffnungsszene von Verdi wurde wieder eingefügt. Der musste seine Oper nämlich bei der Uraufführung in Paris kürzen, damit die Zuschauer rechtzeitig den letzten Zug nach Hause bekamen. Cornelius Meister hatte anfangs alle Mühe, Chor und Orchester beieinander zu halten, auch später wackelten da einige Duette und Ensemble-Szenen. Das Staatsorchester hatte nicht seinen besten Tag – da war wohl viel Nervosität im Spiel. Insgesamt freilich ein ungemein intensiver, hellsichtiger "Don Carlos", der ganz ohne Klischees auskam.
Informationen zu Terminen, Besetzung und Vorverkauf erhalten Sie auf der Homepage der Stuttgarter Staatsoper.
Sendung: "Allegro" am 28. Oktober 2019 ab 06:05 Uhr in BR-KLASSIK