Mit Schostakowitschs "Die Nase" dirigiert Vladimir Jurowski am Sonntag seine erste Premiere an der Bayerischen Staatsoper. Ein Frühwerk mit politisch-kritischen Untertönen. Inszeniert von Kirill Serebrennikow, der auf Grund der Vorwürfe, die in Russland gegen ihn erhoben werden, nicht zu den Proben anreisen konnte. Über die Macht und Pflicht der Kunst und sein Verhältnis zu Wladimir Putin und zum russischen Staat spricht Jurowski mit BR-KLASSIK im Interview.
BR-KLASSIK: Herr Jurowski, seit Beginn der Saison sind Sie Bayerischer Generalmusikdirektor. Das ist eine Position, die ziemlich beladen ist mit Tradition. Kann man da unbelastet rangehen und sagen: Ich mache mein Ding?
Vladimir Jurowski: Ich mag die Bezeichnung ganz und gar nicht. Ich finde, Generalmusikdirektor ist eine schreckliche Bezeichnung. Sie bringt die Musik dem Militärwesen nahe. Das Wort General erinnert vor allem an die Kriegsgeneräle. Und nichts liegt mir ferner als die Kriegsmaschinerie. Das Wort Direktor klingt wiederum eher beamtenhaft, und ich weiß nicht, wie man über Musik als Direktor vorstehen kann. Also die Abkürzung GMD würde ich für mich lieber umdeuten: G für Geburtshilfe, M immer noch für Musik und D fürs dienen.
BR-KLASSIK: Geburtshilfe-Musik-Diener. Klingt gut, Sie haben den Job!
Vladimir Jurowski: Ja (lacht). Aber ich sehe alle Interpreten eher als Geburtshelfer an. Das heißt, wir sind da, um eine Musik, die sonst nur im Kopf eines Komponisten existiert und vom Komponisten aufs Papier gebracht wird, zur Wiedergeburt zu verhelfen.
BR-KLASSIK: Jetzt dirigieren Sie als erste Neuinszenierung im neuen Amt hier in München "Die Nase" von Dmitri Schostakowitsch, inszeniert von Kirill Serebrennikow, einem russischen Regisseur, der mit der jetzigen russischen Regierung ein ziemlich schwieriges Verhältnis hat. Er steht unter Hausarrest, er darf nicht anreisen, er kann hier nicht proben. Wie ist das kulturelle Klima in Russland heute? Fühlen Sie sich als Künstler frei in ihrer Heimat?
BR-KLASSIK: Wie würden Sie darauf reagieren?
Vladimir Jurowski: Ich habe seinerzeit gesagt: An dem Tag, an dem ich auch nur eine Absage erhalte für ein Stück, das ich nicht aufführen darf, an diesem Tag lege ich alle meine Ämter in Russland nieder und komme nie wieder zurück. Zumindest nicht in einer verantwortlichen Position. Ich habe inzwischen meinen Chefposten beim Staatlichen Akademischen Sinfonieorchester so oder so niedergelegt, aber aus anderen Gründen. Ich war dort zehn Jahre lang, und ich fühlte gerade jetzt, mit meiner beginnenden Tätigkeit in München, dass ich dem Orchester nicht mehr so viel Zeit widmen kann, wie es verdient. Sie haben mich zum Ehrendirigenten ernannt. Das heißt, ich werde ab und zu wiederkommen und Stücke spielen, die mir wichtig sind.
Ich finde, da wo Krieg herrscht, müssten wir Musiker dafür sorgen, dass die Vernunft und die allgemeinen menschlichen Werte nach wie vor die Oberhand gewinnen.
Aber ich denke immer an einen Satz, den der Dirigent Iván Fischer in einem Interview gesagt hat, als er nach seinem Verhältnis zur ungarischen Regierung gefragt wurde. Iván Fischer sagte: Das Land ist offensichtlich krank. Aber wenn ein Mensch krank ist, dann bringt man ihm Medizin und heißen Tee, anstatt ihm Hausverbot zu erteilen. Mein Land braucht mich. Ich habe das jetzt nicht wörtlich zitiert, aber mir hat das sehr gefallen. Iván Fischer dirigiert das Budapest Festival Orchestra, obwohl die Situation im Land so schlimm ist. Und gerade weil sie so schlimm ist, muss man kommen. Oder auch Gidon Kremer, der vor vielen Jahren Russland verlassen hat und seitdem im Westen lebt. Der war von der Idee, in Russland aufzutreten, am Anfang gar nicht begeistert gewesen, als ich ihn darauf ansprach. Aber ich habe ihn überzeugen können, dass es wichtig und gut ist. Wir sollten das Konzert von Walentyn Sylwestrow, dem ukrainischen Komponisten, machen, das wurde dann im letzten Moment ausgetauscht. Aber Sylwestrows Musik erklang im selben Konzert.
Und das ist übrigens auch so ein krasses Beispiel für das heutige Russland. Ja, es herrscht Krieg zwischen der Ukraine und Russland, und zwar ein richtiger Krieg und ein Medienkrieg. Die staatlichen Medien sprechen nur in negativen Tönen über die Ukraine und ukrainische Künstler. Aber unter den normalen Bürgern und sogar im Musikbetrieb erklingt die ukrainische Musik nach wie vor. Da hat sich eigentlich nichts verändert, und das finde ich gut. Genauso wie hoffentlich in der Ukraine immer noch Tschaikowsky und Mussorgsky und Schostakowitsch gespielt werden. Ich finde, da wo Krieg herrscht, müssten wir Musiker dafür sorgen, dass die Vernunft und die allgemeinen menschlichen Werte nach wie vor die Oberhand gewinnen. Im Zweiten Weltkrieg gab es ja Aufführungsverbot für viele deutsche Komponisten in Russland. Aber Beethoven durfte nach wie vor gespielt werden, und das fand ich immer richtig.
BR-KLASSIK: Gäbe es dann eine Grenze für Sie, wo Sie sagen: Bis hierhin halte ich der Musik und dem Publikum die Treue – aber ab einem gewissen Punkt würde ich mich instrumentalisieren lassen?
Vladimir Jurowski: Sagen wir so: Bei Wladimir Putins Geburtstag habe ich bis jetzt nicht dirigieren müssen und werde das auch nie tun.
BR-KLASSIK: Ihr Kollege Valery Gergiev erscheint immer wieder zu offiziellen Auftritten mit Präsident Putin.
Vladimir Jurowski: Ja gut, aber wir dürfen nicht vergessen, dass Valery Gergiev mit Wladimir Putin eine persönliche Freundschaft verbindet, die Jahrzehnte zurückliegt. Ich will das jetzt gar nicht bewerten, aber eine menschliche Freundschaft ist eine menschliche Freundschaft. Mich verbindet mit dem Regime gar nichts. Ich kenne ein paar Repräsentanten. Herrn Putin habe ich persönlich nie getroffen. Aber ich habe zum Beispiel inzwischen schon drei Kulturminister kennengelernt. Der erste berief mich damals 2011 nach Moskau. Und die jetzige Ministerin Olga Ljubimowa kannte ich schon, als sie noch in den Windeln lag, weil unsere Familien befreundet waren. Ihr Vater ist ein sehr berühmter Professor für Theatergeschichte und der war mit meinen Eltern befreundet. Olga ist erst 1981 geboren. Also ich kannte sie wirklich als Baby. Und keiner hatte geahnt, dass sie dann irgendwann Kulturministerin wird. Sie hat mir auch geholfen, meinen Plan umzusetzen, dass ich das Orchester verlasse, aber Wassili Petrenko statt meiner kommt und dass das Orchester sozusagen nicht "in falsche Hände" gerät. Dafür bin ich sehr dankbar. Aber weiter als das geht meine Verbindung zum russischen Staat nicht. Und bei staatlichen Veranstaltungen habe ich mich in all diesen zehn Jahren immer zurückgehalten.
BR-KLASSIK: Wie lief jetzt die Probenarbeit, zu der Kirill Serebrennikow nicht kommen konnte. Sie haben ja teilweise in Moskau geprobt. Bei den Proben hier war Serebrennikow per Video zugeschaltet. Wie lief das ab?
Vladimir Jurowski: Das ist schon ein bisschen seltsam. Ich habe manchmal das Gefühl, der Probenprozess ist quasi eine natürliche Fortsetzung des absurden Stücks von Dmitri Schostakowitsch.
BR-KLASSIK: Immerhin haben alle noch ihre Nase. In dieser Geschichte von Nikolai Gogol gibt es ja diesen kleinen Beamten, der eines Tages keine Nase mehr hat, die läuft nämlich jetzt ohne ihn über die Straße und macht Karriere.
Vladimir Jurowski: Ja, allerdings geht es in unserer Deutung des Stücks eigentlich nicht um den Verlust der Nase per se. Es geht um viel schrecklichere Dinge, um den Verlust der Persönlichkeit, um den Verlust der eigenen Stellung in einer Gesellschaft. Kirill Serebrennikow sucht nach existenziellen Themen im alltäglichen Leben von heute. Das Stück ist meiner Meinung nach eine unwahrscheinlich dichte Mischung aus Gesellschaftssatire, absurder Komödie und existenzialistischer Tragödie.
BR-KLASSIK: Sie mögen Regietheater, Sie mögen Regisseure, die ein Stück hinterfragen, die einen doppelten Boden einziehen, die nicht gängige Seherwartungen erfüllen. Oder?
Vladimir Jurowski: Genau. Ich unterstütze auch die Regisseure, die ein Stück hinterfragen. Ich stehe den Regisseuren als Freund und Kollege und Berater immer zur Seite. Nur eins mag ich nicht: Wenn ein Stück benutzt wird als Vorlage für eigene Ideen und Auslegungen, die mit dem Stück eigentlich nichts mehr zu tun haben.
BR-KLASSIK: Haben Sie in so einem Fall schon einmal gesagt: Sucht euch einen anderen Dirigenten?
BR-KLASSIK: Finden Sie es dann manchmal okay, wenn ein Buhsturm über den Regisseur hinwegfegt?
Vladimir Jurowski: Ich finde diese Buhstürme ein bisschen geschmacklos, aber wahrscheinlich okay, weil sie im Prinzip das moderne Äquivalent der faulen Eier und Tomaten von anno dazumal sind. Und die sind ja immer ein Zeugnis des lebendigen Theaters gewesen. Damit mussten die Künstler von damals leben. Wir müssen uns mit den Buhs auseinandersetzen und es gab schon mal Buhs, auch gegen den Dirigenten. Ich habe die Buhs abgekriegt für einen Regisseur.
BR-KLASSIK: Wie fühlt sich das an?
Vladimir Jurowski: Nicht unbedingt angenehm, aber ich wusste, dass das kommt und ich habe das quasi als Kampfansage aufgenommen. Ich kann mich noch erinnern, als ich vor circa 20 Jahren zusammen mit Harry Kupfer auf der Bühne stand nach "Die Teufel von Loudon" von Krzysztof Penderecki.
BR-KLASSIK: Ein Werk, das Sie hier in München jetzt auch machen werden.
Vladimir Jurowski: Genau. Da gab es keinen einzigen Buhruf. Da habe ich dem Kupfer gesagt: Schau mal, Harry, du hast jetzt das Publikum doch eines Besseren belehrt. Und er hat einfach nur mit den Schultern gezuckt und gesagt: "Ich bin einfach alt und gehöre zum Establishment. Deswegen buhen Sie mich nicht mehr aus. Aber eigentlich möchte ich ausgebuht werden." Also wie gesagt, bei einer Inszenierung, die nicht gefallen hat, oder wenn man meint, auch der Dirigent ist mit dran schuld – bitteschön. Aber wenn man einen falschen Ton gespielt hat, auch bei den Sängern, da gibt es ja manchmal wirklich tragische Situation, wenn die Stimme versagt. Das ist aber immer noch kein Grund, Buh zu rufen. Geh du mal selber auf die Bühne und versuche es selbst, würde ich sagen.
Sendung: "Meine Musik am 16. Oktober 2021" ab 11:05 Uhr auf BR-KLASSIK.