Die Zeit ist ja bekanntlich relativ, nicht nur bei Albert Einstein, auch in der Oper. Da dauern fünf Stunden mal eine Ewigkeit, mal einen längeren Nachmittag und manchmal sogar nur ein paar aufregende Herzschläge. Das gilt für Richard Wagners "Parsifal" ganz besonders.
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"Zum Raum wird hier die Zeit" heißt es im Text geradezu prophetisch und: "Ich schreite kaum, doch wähn ich mich schon weit." Reinste Astrophysik! Die aber ist im Baden-Badener Festspielhaus ausgesprochen anstrengend. Um bei der Relativitätstheorie zu bleiben: Wer aus diesem "Parsifal" in der Regie des 82-jährigen Altmeisters Dieter Dorn heraus kommt, kann sich schlagartig um Jahre gealtert fühlen, so unbeholfen, bleischwer und öde schleppte sich die Inszenierung dahin. Nun ist bekannt, dass Dieter Dorn gern textorientiert arbeitet und noch nie für irgendwelche provokanten Mätzchen zu haben war. Das kann wohltuend sein, konzentriert, bildmächtig, ergreifend. Nichts davon war leider dieser "Parsifal", von dem Dorn im Programmheft sagte, die "Musik trete auf der Stelle", es gebe in diesem Fall kein Ziel.
Darüber lässt sich füglich streiten, aber warum Dorn und seine polnisch-österreichische Ausstatterin Magdalena Gut ihre Gralsritter in eine Schreinerei verfrachteten, wollte sich bis zum Ende nicht erschließen. Staffeleien werden unentwegt hin- und hergefahren, bühnentechnisch kompliziert, optisch fad. Auf den Spanplatten sind hauchzart Landschaften angedeutet, als ob Lehrlinge in ihrer Pause etwas darauf herum gekritzelt hätten. Gedreht werden die Holzgestelle auf der Bühne zu kleinen, verwinkelten Zuschauer-Galerien, was an das berühmte Londoner Globetheater aus Shakespeares Ära denken lässt, womöglich eine beabsichtigte Assoziation.
Die Ritter tragen lauter Fetzen am Leib, steingrau, mausgrau, aschgrau, staubgrau, zementgrau, als ob die bulgarische Kostümbildnerin Monika Staykova sich bei Loriot informiert hätte. Im "Parsifal" geht´s ja um eine Untergangsgesellschaft, die unfähig zur Erneuerung ist, hier sterben allerdings alle vor Langeweile. Das fahle Arbeitslicht, für das Tobias Löffler verantwortlich war, trug nicht unwesentlich dazu bei. Es war in etwa so poetisch wie die Deckenleuchten in Teeküchen. Unzweifelhaft war auch das volle Absicht, doch in so einer abweisenden, kühlen Kulisse hätte Regisseur Dieter Dorn sehr viel mehr einfallen müssen, um das Ganze irgendwie interessant zu machen.
Stattdessen standen die Mitwirkenden, darunter der riesengroß besetzte Chor, völlig beliebig herum, ohne Spannung, ohne Absichten, und, ja: ohne Ziel! Wenn das das Konzept war, ging es voll auf. Keine der wirklich aufregenden Fragen im "Parsifal" wurde plausibel beantwortet. Der Gral kam aus einer Art Mini-Bar, die Brotverteilung sah aus wie bei einer kommunalen "Tafel", Parsifal musste sich in einer Maikäfer-Rüstung zum Gespött machen. Dafür gab es am Ende vergleichsweise heftige Protestrufe aus dem Publikum.
Unter den Solisten überzeugten Stephen Gould in der Titelrolle, noch mehr allerdings Franz-Josef Selig als stimmgewaltiger Gurnemanz. Die rumänische Mezzo-Sopranistin Ruxandra Donose war als Kundry viel zu wenig dämonisch und charismatisch, um zur "Urteufelin" zu werden. Der russische Bass Evgeny Nikitin war ein beeindruckend diabolischer Klingsor, Gerald Finley als Amfortas stimmlich zu blass für eine ergreifende Leidensfigur. Alle Augen und Ohren richteten sich natürlich auf Dirigent Simon Rattle, der sich mit dieser Produktion von den Baden-Badener Osterfestspielen verabschiedete. Offenbar hatte Rattle tatsächlich intensiv geprobt, denn während der Premiere sah er kaum mal rauf zur Bühne, die Sänger schalteten auf Autopilot: Ein Theatertier ist Rattle nicht, und einer, der wie Wagner am Dasein leidet, auch nicht. Nun sind ja wenige Briten echte Metaphysiker, also Leute, die sich mit den tiefsten Tiefen der Existenz abmühen. Rattles Stärken sind seine Transparenz, Klarheit, Deutlichkeit und Begeisterungsfähigkeit, allesamt Tugenden, die im "Parsifal" nicht im Vordergrund stehen. So klangen die Berliner Philharmoniker unter seiner Leitung zwar gewohnt souverän und perfekt ausbalanciert, aber auch eine Spur unbeteiligt. Erlösung gab es in diesem Fall nicht - nennenswerte Sünden allerdings auch nicht. Und für die ist Wagner doch eigentlich berühmt.
Neuinszenierung von Dieter Dorn
Berliner Philharmoniker
Leitung: Sir Simon Rattle
Infos zu weiteren Terminen sowie zum Vorverkauf finden Sie auf der Homepage des Festspielhauses Baden-Baden.
Sendung: Allegro am 26. März 2018 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK