Kent Nagano, das Concerto Köln und die Kunststiftung NRW starten ein besonderes wissenschaftlich-künstlerisches Projekt: Richard Wagners Opernzyklus "Der Ring des Nibelungen" soll in historisch informierter Aufführungspraxis erarbeitet werden. Das Vorhaben ist auf drei Jahre angelegt, erste Aufführungen soll es im Jahr 2020/21 geben. Ein Interview mit dem wissenschaftlichen Leiter des Projekts Kai Müller.
BR-KLASSIK: Die historische Aufführungspraxis ist sehr gut erforscht. Was wissen Sie denn, was andere nicht wissen? Oder haben Sie bahnbrechende Erkenntnisse, speziell auch zum 19. Jahrhundert?
Kai Müller: Die historische Aufführungspraxis ist insbesondere im 19. Jahrhundert sehr gut erforscht. Das ist ja eine Zeit, in der das musikwissenschaftliche oder das musikfeuilletonistische Publizierwesen sehr groß war. Trotzdem gibt es Unterschiede zwischen damals und heute, vor allem bei Wagner. So waren zum Beispiel die Streichinstrumente bei Wagner - etwa bei der ersten Aufführung des gesamten "Ring"-Zyklus 1876 in Bayreuth - darmbesaitet, wobei die g-Saite noch ummantelt war. Auch der Stimmton war ein anderer: Bei Wagner lag er wahrscheinlich zwischen 432 und 435 Hertz, was natürlich vor allem für die Sänger eine deutliche Erleichterung bedeutet.
BR-KLASSIK: Was sollte ein authentischer, historisch informierter Wagner-Sänger mitbringen?
Kai Müller: Er sollte ein sehr starkes Bewusstsein für die Sprache und Aussprache mitbringen, und für das, was die Wagner-Anhänger "Sprachgesang" genannt haben. Ich meine jetzt nicht Sprechgesang, sondern Sprachgesang. Das bedeutet, dass Wagner eine saubere Aussprache möchte, keine verschluckten Silben, die richtige Betonung von An- und Ablaut, zum Beispiel Walküre statt Walküre.
Wagner beschwerte sich, dass kein Wort zu verstehen war.
BR-KLASSIK: Heute wird sehr oft bemängelt, dass man nichts versteht, oder das berühmte "Bayreuth-Barking", das Bellen, wird kritisiert. Inwiefern war das früher anders? Wie nähern Sie sich hier wissenschaftlich an, was sind Ihre Grundlagen?
Wagner selbst hat sich sehr stark mit der Germanistik seiner Zeit auseinandergesetzt und eine eigene Sprachtheorie entwickelt. Um es kurz zu fassen: Der Vokal ist der Träger der Emotion, der Konsonant Träger des Sinns. Deswegen muss natürlich auch alles zu verstehen sein, sonst bringt es nichts.
BR-KLASSIK: Deswegen sind die Libretti von Wagner so schwer verdaulich.
Kai Müller: Das sagen Sie jetzt. Ich glaube, Wagner wäre auch nicht ganz so begeistert davon, wenn man seine Dichtung Libretto nennt. Er sah sich selbst als Dichter, und das wurde gerade in der Wagner-Rezeption immer sehr intensiv diskutiert. Das führt mich nun zum Punkt ihrer Frage, wie man sich dem wissenschaftlich nähern kann. Es gibt eine unglaubliche Fülle an Materialien von Wagner selbst, von Wagners Assistenten, die dem Wunsch Wagners folgten, seinen Stil als verbindlich zu deklarieren. Für den Historiker ist das natürlich eine quellenkritische Herausforderung. Denn wenn irgendwo A steht, heißt es noch nicht, dass A richtig ist. Gerade was den Bereich der Aussprache angeht, kooperieren wir unter anderem mit der Universität Halle, wo es ein sprechwissenschaftliches Institut gibt, eines der führenden in Deutschland, wo wir unter anderem auch die Expertise für die Aussprache des Deutschen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bekommen. Die Aussprache des Deutschen wurde erst um 1898 normiert. Bis dahin gab es die verbindliche Hochlautung oder Standardlautung des Deutschen nicht. Wenn Wagner im Jahr 1876 sagt: "Singt doch mal richtiges Deutsch!", fragen wir: "Ja was heißt denn richtiges Deutsch?"
BR-KLASSIK: Unter einer Wagner-Stimme stellt man sich gemeinhin ein großes Volumen vor. Auch da gibt es ja sicherlich Ansatzpunkte aus der Zeit. Es gibt das berühmte Zitat von Wagner über seine Isolde, wo er sagt, dass er eine "Jugendlichkeit" will, und davon spricht, dass sie ein Kind sein muss – bloß keine Norma oder Medea.
Kai Müller: Auch wenn sich Wagner gerne so stilisiert hat, war Wagner sicher nicht der beste Gesangspädagoge auf der Welt. Dafür hatte er Julius Hey, der auch damals in München unterrichtete und auch im Wagner-Umfeld seinen "Deutschen Gesangsunterricht" geschrieben hatte. Ganz wichtig bei Wagner ist, dass man sich davon löst, dass Wagner eine Art gesprochener Gesang ist – oder dieser gebellte Gesang. Wagner muss gesungen werden. Er fordert ja durchaus eine damals italienisch ausgebildete Stimme, einen sauberen, guten Vokalausgleich, aber eben mit einem Schwerpunkt auf den Text.
Concerto Köln zeichnet sich durch eine unglaubliche Neugier aus.
BR-KLASSIK: Nun hat Wagner durchaus für großes Orchester geschrieben. Das Concerto Köln kennt man eher als eine Formation von überschaubarer Größe. Wie passt das zusammen?
Kai Müller: Die Bewegung der Alten Musik entwickelt sich nach vorne und auch nach hinten. Es geht vom Barock zurück in den Frühbarock und in die Renaissance, aber auch vom Barock über die Klassik in die Romantik. Concerto Köln ist auch nicht das erste Orchester, das Wagner historisch informiert spielt. Ich denke etwa an die Dirigenten Thomas Hengelbrock und Bruno Weill und ihre Ensembles. Das waren die ersten Schritte hin zu einem "neuen Wagner-Klang".
Wir gehen auf den Bereich der Gesangs und Aussprachepraxis der Zeit ein. Es wird vielleicht in etwa so sein wie bei Johann Sebastian Bach - auch da hat nicht ein Einzelner fürs klangliche Umdenken gesorgt, sondern es war eine Ganzheit an Ensembles, die einen neuen Klang evoziert hat. So wird es auch bei Concerto Köln sein. Das Orchester zeichnet sich vor allem dadurch aus, sich mit einer unglaublichen Neugier in die Musikgeschichte zu stürzen. Es ist eine große Herausforderung – aber ich bin sehr optimistisch.
BR-KLASSIK: Zu diesem Projekt gehört auch die Inszenierungspraxis, die Sie beleuchten wollen. Ganz spitz gefragt: Heißt das zurück zum Bärenfell – oder wie darf man das verstehen?
Kai Müller: Das ist eine interessante Frage. Auf der einen Seite gehört zur Inszenierungspraxis der Blick auf das, was Wagner damals gemacht hat, aber eben auch, was Wagner wollte. Wagner war schon ein Mensch, bei dem Musik und Gesellschaft sehr eng verknüpft waren. Seine Werke haben ja auch einen starken gesellschaftskritischen Zug. Wenn man sich mit der historischen Inszenierungspraxis nähert ist es ähnlich wie bei der historischen Instrumentalpraxis. Wir sind Menschen des Hier und Jetzt, und wir müssen natürlich aus der heutigen Perspektive eine historisch informierte Lesart finden, und überlegen, wie wir sie ins Heute transferieren können. Das, was am Ende erklingen wird, ist ja auch nicht der hundertprozentige Klang von Wagner, sondern eine Lesart, die sich auf Quellen stützt – aber natürlich aus dem Jetzt heraus.
Die Fragen stellte Johann Jahn für BR-KLASSIK.
Sendung: "Leporello" am 13. September 2017, 16.05 Uhr auf BR-KLASSIK