Karrieretechnisch läuft es gerade nicht so gut für Christian Thielemann: Weder in Dresden, wo er die Sächsische Staatskapelle leitet, noch in Bayreuth, wo er Musikdirektor war, wird sein Vertrag verlängert. Doch die Wiener Philharmoniker bleiben ihm treu. Bei den Salzburger Festspielen dirigierte er gestern Abend Anton Bruckners Siebte Symphonie. Davor gab’s Gustav Mahlers Rückert-Lieder, gesungen von Elīna Garanča.
Wenn es um Bruckner geht, liest und hört man viel von Architektur und Kathedralen. Das hat natürlich seinen Sinn: Jeder spürt das Feierliche in dieser Musik, jeder merkt, wie sich das Körpergefühl verändert, wenn man sie hört. Wie sich Maßstäbe zurechtrücken, großes plötzlich klein wirkt. Ganz ähnlich, wie wenn man in eine Kathedrale tritt.
Auch in ihrer Machart hat Bruckners Musik viel mit Architektur zu tun. Sie ist buchstäblich gebaut: Seine Symphonien bestehen aus regelmäßigen Quadern, aus Viertaktern nämlich. Bruckner, der im täglichen Leben einen Zählzwang hatte, war auch beim Komponieren geradezu zwanghaft: Alle Themen, Formteile und Sätze bestehen aus 4-, 8- und 16-taktigen Einheiten. Wie Quader werden sie aufeinandergetürmt, regelmäßig, berechenbar.
Christian Thielemann ist ein großartiger Bruckner-Dirigent. Doch Thielemann baut keine Kathedralen. Sein Bruckner ruht nicht in sich, klingt nicht rund und erhaben. Thielemann führt nicht durch eine Architektur, die objektiv dasteht. Stattdessen lässt er Dramen miterleben. Er hebt die Zeit nicht auf, er dynamisiert sie. Er zelebriert kein feierliches, religiöses Ritual, sondern erzählt von menschlichen Spannungen, von Lust und Leid. Sein Bruckner ist frei von Weihrauch, subjektiv und unausgeglichen, aufregend und mitreißend.
arte sendet einen Mitschnitt des Konzerts am Freitag, 06. August 2021 um 19.30 Uhr
Allein die Körpersprache: Wo Bernard Haitink etwa, der auf völlig andere Weise Bruckner ebenfalls wunderbar dirigierte, ruhig dastand wie ein Fels in der Brandung und in aller Ruhe die Abläufe steuerte, quasi aus der Vogelperspektive, da stürzt sich Thielemann ins Getümmel. Im Piano geht er in die Hocke, wedelt auf Kniehöhe mit der linken Hand, schüttelt den Kopf, flehend, als wäre es ihm immer noch zu laut. Wenn er das Tempo anzieht, im Scherzo zum Beispiel, stochert er wild mit beiden Händen nach oben. Bei Steigerungen lauert er erst hinten am Geländer des Pults, um dann im richtigen Moment nach vorn zu springen und lustvoll die Faust zu schütteln.
Doch Thielemann agiert keineswegs nur aus dem Augenblick heraus. Er hat den Ablauf des Dramas genau im Kopf. Und führt leidenschaftlich, aber dramaturgisch klug Regie. Dynamisch gibt es nicht nur tolle Details, sondern auch eine weiträumige, wohlüberlegte Disposition. Thielemann staffelt die Höhepunkte, spart sich das Maximum für den Schluss auf. Und er formt Charaktere. Choral und Tanz, unendliche Melodie und motorische Rhythmen – alles wird leidenschaftlich durchlebt und plastisch herausgearbeitet. Die vielen gut geprobten Einzelheiten machen Freude: Mal eine scharf gezeichnete doppelte Punktierung, mal eine spannende Gegenstimme. Aber diese ausdrucksstarken Einzelheiten werden nicht einfach nacheinander präsentiert, sie markieren Punkte auf einer Kurve, die auf ein Ziel zuläuft. Thielemann ist kein Architekt, sondern ein Ausdrucksmusiker durch und durch. Doch immer leitet ihn ein intuitives Formgespür.
Dabei ist sein Bruckner nicht unbedingt schroff. Geschickt fängt Thielemann die formalen Brüche auf, mit organischen Tempofreiheiten lässt er die Abschnitte ineinander münden. Und die Wiener Philharmoniker fressen ihm aus der Hand. Sie klingen unter Thielemann nicht rund und golden, wie man ihnen gern nachsagt, sondern vor allem intensiv und leidenschaftlich.
Sendung: "Allegro" am 02. August 2021 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK