Simon Rattle dirigiert sein erstes Konzert nach dem Corona-Lockdown – beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Es ist ein "Geisterkonzert" ohne Publikum. BR-KLASSIK überträgt live – im Radio und Videostream. Im Interview spricht der Dirigent davon, wie er den Lockdown überstanden hat und warum er sich um das Überleben der klassische Musik nach der Pandemie sorgt.
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BR-KLASSIK: Sir Simon, Sie dirigieren hier im BR ein Konzert ohne Publikum. Mit welchen Gefühlen gehen Sie an dieses Konzert heran, und wie haben Sie die Proben erlebt?
Simon Rattle: Vor allem mit sehr viel Freude. Es ist der erste Fuß, den ich wieder ins Wasser setze – seit dem Lockdown dirigiere ich nun zum ersten Mal. Ich habe nur ein, zwei Mal am Klavier musiziert. Schon die Ankunft der Streicher hier im Funkhaus am ersten Probentag war wirklich berührend. Wir fühlten uns alle irgendwie erlöst, wie bei einem Festessen nach einer Hungersnot.
Man darf die Überlebensfrage von Orchestern zu keinem Zeitpunkt vergessen.
BR-KLASSIK: Wie lange haben Sie jetzt nicht dirigiert? Haben Sie vielleicht daheim mal einen Taktstock in die Hand genommen?
Simon Rattle: Ein Dirigent kann ja nicht wirklich ohne Orchester üben, das macht es etwas schwieriger. Aber dafür ist in unserer Familie während der drei Monate viel los gewesen. Immerhin sind wir zu fünft. Da ich das Kochen übernehme, kamen pro Tag schon mal 15 Mahlzeiten zusammen. Die gemeinsame Zeit war auf der einen Seite sehr paradiesisch. Doch hinter diesem Glück steht natürlich die düstere Frage, was aus unserem Beruf in der Zukunft werden soll. Ich bin der Chefdirigent eines Orchesters in London, dessen Musiker im Prinzip nur dann etwas verdienen, wenn sie spielen. Sie sind nicht fest angestellt wie die Musiker hier. Man darf die Überlebensfrage von Orchestern zu keinem Zeitpunkt vergessen.
BR-KLASSIK: Sehen Sie die großen Orchester – wie zum Beispiel das London Symphony Orchestra, bei dem Sie Chefdirigent sind – wirklich gefährdet in ihrer Existenz?
Ich erwarte nicht, dass Orchester weiterhin rund um den Globus fliegen werden.
BR-KLASSIK: Gibt es Dinge im Musikbetrieb, die sich Ihrer Meinung nach jetzt grundlegend verändern?
Simon Rattle: Ich glaube, dass sich vieles stark verändern wird. Ich nehme an, dass intensives Touren um die Welt in den nächsten fünf Jahren so nicht mehr möglich sein wird. Das London Symphony Orchestra sollte nächstes Jahr unglaubliche 99 Tage auf Tour sein. Und da habe ich die nationalen Gastkonzerte noch nicht mitgezählt. Das ist auf keinen Fall aufrechtzuerhalten, auch wenn das Orchester eigentlich nur so überleben kann. Langfristig erwarte ich nicht, dass Orchester weiterhin rund um den Globus fliegen werden.
Donnerstag, 4. Juni 2020, 20:05 Uhr
München, Studio 1 des Funkhauses
Ralph Vaughan Williams: Fantasia on a theme by Thomas Tallis
Wolfgang Amadeus Mozart: Bläserserenade B-Dur, KV 361 – "Gran Partita"
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Leitung: Sir Simon Rattle
BR-KLASSIK überträgt live im Radio und im Videostream
BR-KLASSIK: In Anbetracht des Klimawandels könnte dieser Wandel ja vielleicht auch gut sein für die Musik.
Simon Rattle: Ich hoffe wirklich, dass die klassische Musik überleben wird. Ich bin davon überzeugt, dass die Menschen sie immer brauchen werden. Doch wir alle werden sicherlich Kompromisse schließen müssen. Aber auf keinen Fall darf man zu der Haltung zurückkehren, dass klassische Musik Luxus ist und keiner besonderen Fürsorge bedarf. Das macht mir nämlich wirklich Sorgen. In Deutschland wird man wohl nicht so sehr darum kämpfen müssen, aber in anderen Ländern. Meine Freunde vom Orchester der Metropolitan Opera in New York wurden sofort entlassen, die bekommen nur noch die Krankenversicherung gezahlt. In London haben wir den Musikern zumindest die Gage bezahlt, die sie für Konzerte in London bekommen hätten. An einigen Stellen geht es wirklich hart zu. Und ein Orchester ist schnell zerstört. Wir werden also kämpfen müssen. Trotzdem muss man optimistisch bleiben. Denn es kann viel Positives aus dieser Situation entstehen. Und irgendwie werden wir auf jeden Fall Musik machen.
München und Berlin sind irgendwie nicht dasselbe Land.
BR-KLASSIK: Sie sind schon lange ein Freund des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks. Erinnern Sie sich an Ihren ersten Auftritt hier?
Nicht nur das, ich erinnere mich sogar an das erste Mal, als ich das Orchester live gehört habe. Damals war ich, glaube ich, 15 Jahre alt. Rafael Kubelík dirigierte Beethovens Neunte in Liverpool. Es war einer der denkwürdigsten Konzertabende für mich, der mein Leben verändert hat. Als ich dann selbst zum ersten Mal vor vielleicht zehn Jahren hierherkam, erzählte ich den Orchestermusikern von diesem Erlebnis. Und einige riefen: Wir waren dabei! Wie ich es erwartet hatte, habe ich mich natürlich sofort in dieses Orchester verliebt. Hier konnte ich mit einem ganz anderen deutschen Orchester zusammenarbeiten als in Berlin bei den Philharmonikern. Beide Orchester sind fantastisch, aber völlig unterschiedlich. Ich versuche das auch immer den Engländern zu erklären: München und Berlin sind irgendwie nicht dasselbe Land.
Sendung: "Leporello" am 04. Juni 2020 um 16:05 Uhr auf BR-KLASSIK