Von der Villa Wahnfried bis in den Gerichtssaal der Nürnberger Prozesse führt die wahnwitzige Reise, die Regisseur Barrie Kosky auf die Bühne des Bayreuther Festspielhauses bringt. Am 25. Juli 2017 feierte Wagners Oper "Die Meistersinger von Nürnberg" bei den Bayreuther Festspielen Premiere. Eine Kritik von Bernhard Neuhoff.
Barrie Kosky inszeniert eine Reise durch den Wahn. Der Wahn wohnt in einem Charakterkopf, auf dem ein schwarzes Samtbarett sitzt. Wagner liebte solche Kappen. Damit sah er fast wie Rembrandt aus. Nicht weit vom Festspielhaus, in der Villa Wahnfried, kann man heute in den rekonstruierten Räumen die originalen Mützen des Meisters bewundern. Dort, bei Wagners zuhause, beginnt auch Koskys Meistersingerinszenierung. Schon während der Ouvertüre bevölkert sich der Raum. Schwiegervater Franz Liszt greift in die Tasten. Gattin Cosima hat Migräne. Und dann kommt auch noch Dirigent Hermann Levi zu Besuch, den Wagner als Künstler achtet und als Menschen quält, weil er Jude ist. Man spricht ein neues Werk durch, singt und spielt: die Meistersinger.
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Wagner, der solche Privataufführungen liebte, verteilt die Rollen. Liszt verwandelt sich in Pogner, Cosima in Eva. Wagner selbst steht mehrfach auf der Bühne. Als junger Mann ist er Stolzing, als alter Sachs. Diese ersten Minuten sind grandios. Temporeich, treffsicher und bitterböse - etwa, wenn alle niederknien, um die deutsche Kunst anzubeten. Nur der Jude Levi wird ausgeschlossen, fremd gemacht, ins Abseits gestellt. Klar, dass ihm die Buhmann-Rolle des Beckmesser zufällt.
Ob diese Figur wirklich eine Judenkarikatur ist, darüber wurde schon zu Wagners Lebzeiten diskutiert. Doch Barrie Kosky geht es nicht um die abgedroschene These Beckmesser = Jude. Er zeigt vielmehr, wie eine Gemeinschaft Außenseitern eine Rolle aufzwingt, wie ein realer Mensch hinter Stereotypen verschwindet. Was Antisemiten unbedingt sehen wollen, kriegen sie irgendwann auch zu sehen – etwa das angeblich "typisch jüdische" Gestikulieren. Das ist beklemmend und komisch zugleich, schwarzer Slapstick in opulenter Bühnenoptik. Die Darsteller der Familienaufführung verkleiden sich in Renaissancekostümen - kerndeutsche Rembrandt-Menschen, wie sie die reaktionären Wagnerianer propagierten.
Plötzlich fährt die Villa Wahnfried nach hinten und gibt einen weiten Raum frei. Es ist der Schwurgerichtssaal des Nürnberger Justizpalasts. Hier fanden 1945/46 die Kriegsverbrecherprozesse statt, hier spielen zweiter und dritter Akt. Keine muntere Massenschlägerei ist die Prügelfuge, sondern ein Angriff aller gegen einen. Während Beckmesser geschlagen wird, ploppt eine riesig aufgeblasene Judenkarikatur aus dem Nazihetzblatt "Stürmer" auf. Das ist dann doch eher Zaunpfahl denn Erkenntnis.
Deutlich spannender der Schluss: Die Festwiese, zuvor optisch fesselnd choreographiert, entvölkert sich schlagartig. Hans Sachs vulgo Richard Wagner bleibt allein im Gerichtssaal zurück und hält seine berüchtigte Rede über die echte deutsche Kunst an uns, ans Publikum. Als triumphal der Chor einstimmt, fährt ein Orchester auf die Bühne, von Richard dirigiert. Seine Ideologie ist gerichtet, seine Musik ist gerettet. Neu ist der Lernstoff dieser fünf Geschichtsstunden sicher nicht, es gibt weder Theaterrevolution noch Erleuchtung - stattdessen kluge Fragen, Brüche und handwerklich immer gekonntes Theater. Gut ist Kosky auch dann, wenn er unter seinen Möglichkeiten bleibt.
Musikalisch ist es dagegen ein großer Abend. Und das, obwohl Dirigent Philippe Jordan die schwierige Festspielhausakustik noch nicht ganz im Griff hat. Erfreulich sind meist flüssige Tempi und Spielfreude – die aber manchmal in pauschales Weiterso umschlägt und nebenher ein paar Wackler produziert. Doch was die Sänger leisten, ist fantastisch. Wie wach und präsent gestaltet Daniel Behle den David! Grandios auch die Leistung von Johannes Martin Kränzle als Beckmesser. Eigentlich ist der Stolzing ja die Paraderolle von Klaus Florian Vogt, aber die umwerfende Mühelosigkeit, mit der er die Rolle 2007 in Bayreuth bewältigte, ist weg. Etwas unglücklich besetzt ist die Eva der Anne Schwanewilms – diese Partie braucht jugendlichen Glanz in der Stimme. Ungebrochener Jubel dagegen für Michael Volle. Sein Sachs berührt in den intimen Momenten und verfügt über beeindruckende Reserven. Letztlich trägt die Glaubwürdigkeit dieses großartigen Darstellers den Abend – Volle ist Sachs, Volle ist Wagner, Volle singt von Wahn und Liebe und zeichnet einen Charakter von faszinierender Ambivalenz. Denn darin hat Kosky ja recht: Egal, wie viel man von Wagners dunklen Seiten weiß und zeigt: Am Ende hat er uns mit seiner Musik doch wieder erwischt.
Premiere: 25. Juli 2017
Hans Sachs: Michael Volle
Walther von Stolzing: Klaus Florian Vogt
Sixtus Beckmesser: Johannes Martin Kränzle
Veit Pogner: Günther Groissböck
und weitere
Inszenierung: Barrie Kosky
Musikalische Leitung: Philippe Jordan
Chor und Orchester der Bayreuther Festspiele
Sendung: Allegro, 26. Juli 2017, 06.05 Uhr auf BR-KLASSIK