Der Petrenko-Ring war ein Ereignis. Während die bildgewaltige Regie von Frank Castorf polarisierte, stieß der Dirigent auf Begeisterung. BR-KLASSIK-Redakteur Bernhard Neuhoff hat die Premierenserie 2013 in Bayreuth und zahlreiche Generalproben der folgenden Jahre miterlebt. Und war überwältigt. Beim Wiederhören aus zeitlichem Abstand wird immer deutlicher: Kirill Petrenkos Deutung war epochal. Ein Essay.
"Einmal", erzählt Patrick Seibert, Dramaturg und Mitspieler beim Bayreuther Ring von Frank Castorf und Kirill Petrenko, "einmal gab es ein Gespräch über Fußball". Und das war fast eine Sensation. Nicht, weil sich der Wahlmünchner Petrenko als gut informierter Bayern-Fan outete und Castorf für Union Berlin war. Großkapitalistischer Rekordmeister versus aufbegehrende Underdogs: Der kleine fußballerische Ost-West-Konflikt war offenbar schnell beigelegt. Nahezu sensationell war dieses Gespräch, das sich dezidiert um etwas anderes als Wagners Werk und seine Inszenierung drehte, weil es überhaupt stattgefunden hat.
Petrenko war außerhalb des Festspielhauses nie zu sehen.
"Die anderen trifft man ja ständig, in der Therme, im Biergarten, in der Kantine. Bayreuth ist klein. Aber Petrenko ist nach der Probe immer gleich weg gewesen." Entweder im Archiv, wo er Wagners Handschriften und die Aufzeichnungen von Felix Mottl studierte. Der war bei der Uraufführung des Rings 1876 in Bayreuth Assistent des Dirigenten Hans Richter. Unersetzlich ist diese Quelle, weil Mottl bei den Proben minutiös über Wagners Wünsche und Anweisungen Tagebuch führte: Tempo, Ausdruck, Balance. "Hier sagt Mottl...", so habe Petrenko viele Sätze in den Proben begonnen. Wenn Petrenko nicht im Archiv studierte, erzählt Seibert, habe er in seinem Zimmer gesessen und den Mitschnitt der gerade absolvierten Probe durchgehört – um zu kontrollieren, ob er seinem Ziel näherkommt. "Das hat er nicht nur im ersten Jahr gemacht, sondern bis zuletzt – trotz der begeisterten Kritiken." Manchen sei diese Arbeitswut fast unheimlich gewesen: "Man verbringt ja über mehrere Wochen sehr viel Zeit miteinander. Da möchte man irgendwann auch mal über was Harmloses reden. Manche haben sich fast gesehnt danach, einfach mal ein Bier mit ihm trinken zu gehen."
"Mit Bappe back' ich kein Schwert": Siegfried geht gründlich zur Sache. Aufgewachsen in der Höhle eines Schmiedes, ist er kein Neuling im metallverarbeitenden Gewerbe. Aber bei der Reparatur von Nothung, der zerbrochenen Wunderwaffe, ist er Debütant. Meisterschmied Mime, der selbst an der Wiederherstellung gescheitert ist, traut ihm die Aufgabe nicht zu. Doch Siegfried denkt gar nicht daran, die Schwertstücke so aneinander zu löten, wie sie ihm überliefert wurden. Stattdessen zerkleinert er die Fragmente in winzige Späne, um sie dann einzuschmelzen und neu zu gießen: Das Tradierte muss buchstäblich geschreddert werden, um dann aus einem Guss neu zu entstehen.
Was Ihr Theaterleute Eure Tradition nennt, das ist nichts anderes als Eure Bequemlichkeit und Schlamperei!
Gustav Mahlers berühmter Ausspruch könnte Petrenkos Motto sein. Im Stillen jedenfalls, er würde das in seiner meist sehr freundlichen Art wohl kaum so offensiv aussprechen. Dreimal, in den Jahren 2013 bis 2015, hat er Wagners Ring des Nibelungen in Bayreuth dirigiert. Fragt man Orchestermusiker nach seinem Probenstil, bekommt man Dinge erzählt, die an Siegfrieds zweistufiges Verfahren erinnern: Am Beginn steht die kleinteilige Arbeit an den Details, das Aufbrechen der Gewohnheit – eben das "Zerfeilen", wie Wagner seinen Held Siegfried sagen lässt. "Wir dachten zuerst: Was ist das denn für einer, will der uns knechten?", erzählt Teja Andresen, im Hauptberuf Kontrabassist im Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Die Musiker des Festspielorchesters verbringen in Bayreuth schließlich ihre Sommerferien – freiwillig, wenn auch für gutes Geld. Aber ohne Begeisterung für Wagners Musik macht das kein Musiker aus einem Spitzenorchester. Wer hier seit Jahren mitspielt, meint zu wissen, wie Wagner zu klingen hat – egal, wer vorne steht. "Mit Petrenko ging das nicht", sagt Andresen. "Alles wurde auseinandergenommen und neu zusammengesetzt. Oft hat er in langsamen Tempi geprobt, mit kleinen, präzisen Bewegungen. So hat er uns förmlich gezwungen, genau zu hören, alles wirklich exakt aufeinander zu setzen."
Für Journalisten war es in Bayreuth nicht möglich, Petrenko bei den Proben zu beobachten. Doch an der Bayerischen Staatsoper gibt es manchmal die Gelegenheit dazu. Was man dabei erlebt, ist eine freundliche Detailversessenheit, die ebenso radikal wie pragmatisch wirkt. Petrenko fordert viel – aber nur von Künstlern, die er schätzt, weil er weiß, dass sie über die entsprechenden Möglichkeiten verfügen. Jede Kleinigkeit, die er korrigiert, bringt ein hörbares Resultat. Viele Einzelheiten werden nur den Musikern bewusst. Doch in der Summe entsteht aus den sorgfältig gesetzten Mosaiksteinen eine völlig neue Qualität im Gesamtbild. In der Aufführung selbst überlässt sich Petrenko dann einer Art kalkulierter Ekstase. "Da hat er plötzlich aufgemacht – und das war im Kontrast zu den Proben überwältigend für uns", erzählt Andresen.
Bei der Aufführung hat Petrenko plötzlich aufgemacht.
Auch in seiner Körpersprache hat Petrenko gewissermaßen zwei Modi: Die federnden kleinen Bewegungen mit beiden Armen und ruhigem Oberkörper sorgen für Präzision. So lassen sich komplexe Abläufe koordinieren, ein gemeinsamer Atem verbindet Bühne und Graben, ein lebendiger Puls belebt den musikalischen Fluss. Es entsteht gewissermaßen ein natürliches Gefälle, von dem alle sich getragen fühlen. Und dann, meist den Aufführungen vorbehalten, gibt es auch ein geradezu ekstatisches Bewegungsrepertoire: Ausfallschritte nach vorn, Arme über Kopfhöhe, weite Kreise mit der Linken. Bei heftigen Entladungen springt er auf dem Pult nach hinten. Auch verspielte Gesten erlaubt er sich dann, etwa wenn er Melodielinien, die von einem Instrument zum anderen weitergereicht werden, liebevoll mit dem Zeigefinger nachzeichnet. So verwandelt sich der pingelige Detailfreak in einen enthusiastischen, lustvollen Motivator, der trotz aller Entäußerung seinen Leuten immer genau zeigt, was die Millisekunde geschlagen hat. Und die tausend Details verschmelzen im mitreißenden Sog des musikalischen Dramas.
Ein wenig Hysterie gehört zu jeder Bayreuth-Premiere. Aber selten standen so viel gespannte Erwartung, später dann auch Wut und blanker Hass im Raum wie im ersten Jahr der Ring-Produktion von Kirill Petrenko und Frank Castorf. Was fast ausschließlich am Regisseur lag, nicht am Dirigenten, dem nach der Rheingold-Premiere am 25. August 2013 eine Welle der Begeisterung entgegenschlug.
Dieser hölzerne Deckel verursacht allerdings auch unterschiedliche Laufzeiten des Schalls. Und das ist vertrackt. Der Dirigent nämlich hört etwas anderes als die Zuschauer. Er muss deshalb immer auf mehreren zeitlichen Ebenen zugleich präsent sein, die minimal gegeneinander versetzt sind. Nur dann kommt der indirekte Klang der Instrumente und der direkt abstrahlende Klang der Sänger auch wirklich gleichzeitig beim Zuschauer an. Hinzu kommen komplizierte Balance-Probleme. Die ersten Geigen etwa sitzen in Bayreuth, anders als überall sonst auf der Welt, rechts vom Dirigenten: Die Instrumente weisen nach hinten. Ausgerechnet die Gruppe, die am häufigsten die Melodielinie übernimmt, projiziert den Schall hauptsächlich Richtung Bühne, weg von den Zuschauern. All das muss der Dirigent berücksichtigen, um das Klangbild auszubalancieren.
Wenn Koordination und Balance bei einem Festspielhaus-Debütanten im ersten Jahr noch nicht perfekt sind, billigt man als Kritiker auch erfahrenen Dirigenten eine gewisse Lernzeit zu. Doch Petrenko machte es gleich auf Anhieb sehr viel besser als sämtliche Dirigentenkollegen, die ich bis dahin erlebt hatte. Was konnte man da nicht alles hören! Stellen, die sonst schwerfällig oder tumb klingen, zum Beispiel das Schmiedelied im Siegfried, wirkten bei Petrenko aufregend – weil man plötzlich die verschreckten Sechzehntel-Triolen in den Oboen hörte, die bei anderen Dirigenten fast immer von den massigen Tonleitern der acht Hörner zugedeckt werden. Wahrnehmbar wurde so eine ganze Welt von sprechenden Motiven, die sonst im pauschalen Klangstrudel untergehen. Ein Stück, das man gut zu kennen meinte, erstrahlte in völlig neuem Licht.
Durch den hochauflösenden Orchestersound war das Ohr unentwegt beschäftigt – und das schlug um in ein großes Lustgefühl. Dieses Hörerlebnis war alles andere als bloß analytisch: Ein erregendes Gefühl des Neuen, ein beglücktes Staunen, ein emotionaler Ausnahmezustand wurden ausgelöst. Wenn sich Steigerungen aus dem Nichts entwickeln und schon unentrinnbar sind, ehe man sich darüber klar geworden ist, was gerade passiert, wenn man dann in einer Art kollektivem Bewegungsrausch mitgerissen wird von vorwärtstreibenden Energien, dann kann das unmöglich alles nur kopfgesteuert sein.
Nu macht doch vorwärts! Elende Bummelei!
Petrenkos schnelle Tempi entsprechen dabei zweifellos Wagners Willen. Immer wieder klagte der Komponist, man spiele seine Musik zu langsam: "Nu macht doch vorwärts! Elende Bummelei!" Petrenkos Brio, seine nach vorn drängende Energie hätten den Meister entzückt. Er nahm dieser gewichtigen Musik alles Umständliche und Langwierige, ohne dabei irgendetwas von ihrer suggestiven dramatischen Wucht zu opfern. Umso stärker wirkten dann die kammermusikalischen Momente, etwa bei der in leuchtendem pianissimo schwebenden "Todesverkündigung" im zweiten Akt der Walküre: Ihre traumverlorene Poesie ließ einen die Zeit vergessen.
Aufschlussreich ist dabei Petrenkos Verhältnis zur historischen Aufführungspraxis. Obwohl er sich brennend für die Aufführungsbedingungen zu Wagners Lebzeiten interessiert, klingt seine Deutung völlig anders als bei Dirigenten, die sich Wagner von der Alte-Musik-Bewegung her nähern, Bruno Weil etwa, Thomas Hengelbrock oder Hartmut Haenchen. Diese Dirigenten lesen die Partituren vor dem Hintergrund der Tradition, aus der Wagner beim Komponieren schöpfte: Dann klingt der Fliegende Holländer nach Carl Maria von Weber und der Tannhäuser nach Mendelssohn. Ganz anders Petrenko. Er interessiert sich für Wagners Modernität, für seine disruptive Vision: Die Götterdämmerung klang bei Petrenko eher nach Strauss’ Elektra als nach Wagners Vorgängern. Das Beglückende dabei war, dass Petrenkos Deutung zwar skrupulös durchdacht war, im Ergebnis aber lustbetont und euphorisierend wirkte. Dieser Dirigent will keine Thesen exemplifizieren. Er muss nichts beweisen. Und deshalb wirkt sein Musizieren, obwohl er unentwegt deutet, gestaltet und hörbar macht, in keinem Moment manieriert oder gewollt. Sondern lebendig, natürlich und sinnerfüllt.
Der Rohstoff Erdöl als Leitmetapher für die zerstörerische Macht des Goldes, der Ost-West-Konflikt als historischer Spiegel des mythischen Kampfs um die Macht, die russische Revolution und die Wall Street, dazu virtuose Zitate quer durch die Filmgeschichte, sich überlagernde Live-Projektionen, Krokodile und Voodoo-Kult: Diese Inszenierung bot dem Auge eine kalkulierte Reizüberflutung und dem Kopf ein konstantes Trommelfeuer der Finten und Fährten.
"Sehen Sie nicht so viel hin, hören Sie zu!", raunte Wagner seiner Freundin Malwida von Meysenbug zu und legte dabei die Hand auf ihr Opernglas. Trotz modernster Laterna-Magica-Projektionen war Wagner mit der Inszenierung der Walküre bei der Uraufführung 1876 nicht zufrieden. Auch später empfahl er seinen Freunden immer wieder, dem Ohr mehr als dem Auge zu trauen. Den kurzsichtigen Friedrich Nietzsche forderte er sogar auf, im Tristan die Brille abzusetzen, dann sei die Wirkung am besten.
Kirill Petrenko hat diese Herausforderung sehr bewusst und konstruktiv angenommen. Patrick Seibert erzählt, er sei bei jeder szenischen Probe dabei gewesen. "Den Sängern mussten wir historische Anspielungen oder Zitate aus der Filmgeschichte erst erklären. Petrenko hatte das alles präsent." Dabei habe er immer wieder auf die musikalischen Aspekte der Inszenierung hingewiesen: Wie ist der Sichtkontakt zu den Sängern? Bleiben sie hörbar – etwa wenn Riesen und Götter im Hinterzimmer verschwinden? Welche Bühnengeräusche sind akzeptabel? Während des Racheterzetts in der Götterdämmerung sollte, als Zitat einer berühmten Filmszene aus Sergej Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin, ein Kinderwagen über eine Treppe nach unten rattern, aus dem mit zusätzlichem Gepolter eine Fuhre Kartoffeln kullert. Für Pentrenko war das an der ursprünglich vorgesehenen Stelle viel zu laut. Statt den Regie-Einfall abzublocken, schlug er eine Stelle vor, an der das Orchester laut genug war – und gab dann sogar für diese szenische Aktion den Einsatz.
Den Sängern mussten wir historische Anspielungen oder Zitate aus der Filmgeschichte erst erklären. Petrenko hatte das alles präsent.
Natürlich habe es auch Konflikte mit dem Regieteam gegeben, berichtet Seibert. Wenn eine Seite sich durchgesetzt hatte, habe man sofort wieder konstruktiv weitergearbeitet. Andere Konflikte blieben unter der Decke – und schwelten. Nicht immer zogen, vorsichtig ausgedrückt, die beiden Festspielleiterinnen Eva und Katharina Wagner an einem Strang. Mit Eva Wagner hatte Pentrenko vertrauensvoll beim Casting der Sängerbesetzung zusammengearbeitet. Ihre Halbschwester Katharina suchte dagegen die Nähe zu Pentrenkos Kollegen Christian Thielemann.
Nach außen offenkundig wurden die Meinungsverschiedenheiten kurz vor der Generalprobe zur Wiederaufnahme im Juli 2014, als Alberich Martin Winkler gegen den Willen des Regieteams von der Festspielleitung ausgetauscht wurde. Zur knapp abgewendeten Eskalation kam es im Juni 2015. Gerüchte über ein angebliches "Hügelverbot" für Eva Wagner, die auf eine Verlängerung ihres Vertrags verzichtet hatte, machten die Runde. Die Süddeutsche Zeitung wollte von einem Zerwürfnis zwischen Thielemann und der scheidenden Festspiel-Co-Chefin erfahren haben. Lance Ryan, der Siegfried-Darsteller, wurde ausgewechselt. Nun ging der sonst so diskrete Petrenko an die Öffentlichkeit. Der Umgang mit Lance Ryan und Eva Wagner sei "würdelos", erklärte er: "Nur die Verantwortung und der Respekt meinen Kollegen in Bayreuth gegenüber, die ich nicht so knapp vor Beginn der Proben im Stich lassen kann, hält mich davon ab, meine Mitwirkung aufzukündigen."
Dass gleichzeitig die Berliner Philharmoniker in einem schwierigen Wahlverfahren nach einem neuen Chefdirigenten suchten, hat in jenem Frühsommer die Situation für alle Beteiligte sicher nicht leichter gemacht. Schließlich war neben Petrenko, der am 22. Juni 2015 die geheime Wahl in Berlin gewann, auch sein Bayreuther Kollege Christian Thielemann ein aussichtsreicher Kandidat. Dass auf der Welt und sogar in Bayreuth Platz für zwei überragende Wagner-Dirigenten ist, bewies dann der Festspielsommer 2015: Neben einem glühend romantischen, im besten Sinn traditionellen Tristan, dirigiert von Christian Thielemann, war ein letztes Mal die elektrisierende Ring-Deutung Kirill Petrenkos zu hören. Zum Glück für die Nachwelt liegen die Mitschnitte dieser drei außergewöhnlichen Jahre in bester Klangqualität in den Archiven des Bayerischen Rundfunks. Wer ihnen lauscht, langweilt sich auch ohne Castorfs assoziative Bildgewitter keine Sekunde: "Sehen Sie nicht so viel hin! Hören Sie zu!"
Dieser Text erschien in einer leicht gekürzten Fassung erstmals im September 2019 in "128 - Das Magazin der Berliner Philharmoniker".