So mancher Anfang ist kurios. Aber nur wenige Anfänge bieten eine Geschichte, die so voller Situationskomik steckt wie diejenige über die Entstehung der Internationalen Jazzwoche Burghausen. Zwei Männer spielen darin die Hauptrollen: der damalige Gerichtsvollzieher Helmut Viertl und der Jazzmusiker und Pädagoge Joe Viera. Ein neues Buch zeigt die Geschichte der Jazzwoche auf. Geschrieben haben es die BR-KLASSIK-Musikjournalisten Roland Spiegel und Ulrich Habersetzer. Hier exklusiv ein Kapitel daraus.
Der erstere, ein gebürtiger Oberpfälzer aus Neumarkt, war 1962 nach Burghausen gekommen und hatte dort einige Jahre später einen Jazzclub gegründet, mit dem Namen "Birdland" – benannt nach dem berühmten New Yorker Vorbild, einem Club, der 1949 am Broadway eröffnet worden war. Aber Pate stand auch ein weiterer Club, den ein paar junge Jazz-Begeisterte 1958 im 200 Kilometer nordwestlich von Burghausen gelegenen Neuburg an der Donau aus der Taufe gehoben hatten – das "Birdland Neuburg": Hinter dem stand ein Häuflein Jazzfans rund um einen gewissen: Helmut Viertl. Als der vier Jahre später beruflich nach Burghausen versetzt wurde, ließ er den Jazz erst einmal beiseite. Und er war sowieso der Überzeugung: "Da geht gar nichts! Das ist ein furchtbares Nest, und viel kann man da nicht anfangen."
Es ging alles klar – jedenfalls mit dem Termin. Der Vortrag fand statt. Aber darum herum gab es eine Kette von Pannen, die den Gast beinahe zur Verzweiflung gebracht hätten. Damals reiste Joe Viera mit Musik-Kurzfilmen nach Burghausen, an die er durch die zufällige Bekanntschaft mit einem kanadischen Sammler gekommen war. In ganz Europa hielt er Vorträge darüber – "von San Sebastián bis Pori", so Viera. Warum also nicht auch mal ein Ort an der bayerisch-österreichischen Grenze? Die Filme waren sogenannte Soundies, kurze musikalische Spots, die man an ihrem Herkunftsort in der Juke-Box sehen konnte. Münze rein, Film ab, drei Minuten Musik zum Anschauen. Aber auch Streifen wie der Zehnminüter "A Rhapsody in black and blue" von 1932, der in einer politisch nicht sonderlich korrekten Traumsequenz Louis Armstrong als afrikanischen König im Leopardenfell zeigt, war damals in Joe Vieras Materialkoffer. Filme wie diese also führte Joe Viera 1969 in Burghausen vor. Die Veranstaltung war nicht sonderlich gut besucht – man munkelt heute von sieben Teilnehmern -, dann streikte auch noch der Projektor, und Viera saß eine ganze Weile verlassen in einer Ecke, bis das Problem endlich gelöst war. Am nächsten Tag die Steigerung: Viera wurde im Hotel festgehalten, weil er die Übernachtung nicht zahlte. Diese Rechnung, so war er überzeugt, sollte eigentlich der Kreisjugendring übernehmen, aber der Wirt bestand auf der direkten Lösung: Wer übernachtet, der zahlt. Viera allerdings konnte, wie er sagt, gar nicht zahlen, weil er nicht genug Bargeld dabeigehabt habe. Er schritt beherzt zu einer Telefonkabine im Eingangsbereich des Hotels, um Helmut Viertl anzurufen, nahm den Koffer mit den unwiederbringlichen und hoch versicherten Filmen mit – und der Wirt, vermutend, dass sich da jemand aus dem Staub machen wolle, klemmte die Tür der Telefonkabine zu. So saß Viera also fest – in ziemlich misslicher Lage.
"Meine Abneigung gegen Burghausen", so sagt er heute, "erreichte in diesem Moment ein absolutes Maximum". Und er habe sich geschworen: "Nie wieder Burghausen!" So kann man sich irren. Helmut Viertl, als Gerichtsvollzieher erfahren mit säumigen Zahlern, eilte aus dem Büro herbei, löste Joe Viera aus – und fuhr ihn zum Bahnhof. Der Zug, den Viera hatte nehmen wollen, war schon weg, und dann, so der Münchner Gast, "haben wir geredet, geredet und geredet" - wofür reichlich Zeit war, denn damals verkehrten laut dem ehemaligen Bahnhofsvorsteher im nahen Mühldorf, Georg Lohr, nur bis zu vier Züge pro Tag von Burghausen Richtung München. Also geschah das Unvermeidliche: "Wir erzählten uns unsere Lebensgeschichten". Das hatte Folgen. Der Burghauser Gastgeber Helmut Viertl erwähnte in diesem denkwürdigen Gespräch damals nämlich auch, dass er gern einmal etwas Größeres mit Jazz aufziehen würde. Ergebnis: Als der Vortragsreisende Viera dann schließlich doch einen Zug zurück nach München bestieg, winkte er noch aus dem Fenster und rief: "Ich mach mit".
Ein Team war geboren. Eines, das über zwanzig Jahre lang die Jazzwoche prägen sollte. Vom 3. bis zum 8. März 1970 fand die erste "Jazz-Woche Burghausen" statt – damals noch in der Schreibung mit Bindestrich. Es gab wieder einen Vortrag zu "Jazz im Film", es gab ein Dixieland-Konzert, es gab eine Diskussions-Veranstaltung mit dem Thema "Wo steht der Jazz heute? Oder: Wie modern ist unser Musikunterricht?", es gab ein Club-Konzert, einen Abend mit Blues und Pop und ein internationales Abschlusskonzert, unter anderem mit der Combo des Trompeters und Gitarristen Oscar Klein und einem Quartett um Posaunist Ed Kröger und einen Saxophonisten namens Joe Viera, das Avantgarde-Jazz spielte. Dieses Konzert zeichnete damals der Bayerische Rundfunk bereits auf. Die Sendung, die der Moderator Werner Goetze damals machte, lief innerhalb der 1961 gegründeten Reihe "Jazz auf Reisen", die es noch heute gibt.
Wie konnte das so schnell funktionieren? Ein Vorlauf von genau fünf Monaten? Kann man so schnell Musiker, Helfer und vor allem einen Veranstaltungsort herkriegen? Erster Schritt: "Wir haben telefoniert, fast täglich", sagt Helmut Viertl. Zweiter Schritt: Unterstützung durch die Stadt, wobei der damalige Bürgermeister Georg Miesgang eine offenbar sehr wichtige Rolle spielte. Miesgang (1920 bis 1987), ein gebürtiger Münchner, war Jurist und Kommunalpolitiker (CSU), 1966 zum Bürgermeister von Burghausen gewählt: ein Amt, das er bis 1984 innehatte. Helmut Viertl sagt: "In Burghausen war es leichter als anderswo, weil der Bürgermeister auf Jazz stand. Er war Rechtsanwalt, ich Gerichtsvollzieher, also haben wir da ein wenig zusammengearbeitet, haben uns auch bei Gericht getroffen, und er hat immer gesagt: Wennst wos Gscheits machst, mach mer’s." (Zu Hochdeutsch vielleicht: Wenn Du etwas Sinnvolles anfängst, unterstützen wir Dich") Auf welche Art der Bürgermeister andere städtische Politiker einst vom Jazz überzeugte, schildert Viertl so: "Ich hab' gewusst, dass er ein Chris-Barber-Fan ist. Ich hab' den Barber dann eingeladen in den Stadtsaal. Damals war Stadtratssitzung am selben Abend. Und der Bürgermeister unterbricht die Stadtratssitzung für eine Pause, führt den ganzen Stadtrat in den Stadtsaal, lässt die Stadträte etwa zwanzig Minuten Chris Barber hören, danach winkt er sie wieder raus – und die Stadtratssitzung ist weitergegangen. Die Stadträte sollten mal hören, wie Jazz klingt. Ohne weitere Erläuterung. Solche Sachen hat er gemacht. Das war natürlich eine Hilfe."
Miesgang sagte damals der Überlieferung zufolge auch den schönen Satz: "Geid howi koans, awa an Stadtsaal kennt’s ham" (zu Hochdeutsch: Geld habe ich nicht, aber Ihr könnt den Stadtsaal haben) – so Joe Viera in dem Buch "20 Jahre Jazz Burghausen", das die Interessengemeinschaft Jazz Burghausen e. V. 1989 herausgab. Das Buch widmete Joe Viera damals dem zwei Jahre zuvor verstorbenen Ex-Bürgermeister, der durch das kostenlose Zur-Verfügung-Stellen des Saals den Weg für das Festival ebnete. Das Geld für die Gagen der Musiker musste freilich durch die Eintrittskarten finanziert werden. Bürgermeister Georg Miesgang konnte durch gute Kontakte zum Bayerischen Rundfunk offenbar auch die Aufmerksamkeit des BR-Hörfunk-Jazzmanns Werner Götze auf die neue Veranstaltung ziehen. Und dazu sagt Helmut Viertl: "Eine bessere Werbung kannst du nicht haben. Durch die Jazzsendungen wusste man: In Burghausen baut sich was auf."
Es ist eine Gemeinschaft daraus geworden, und das ist heute noch so.
Es baute sich wirklich etwas auf, und viele halfen mit. "Da war von Haus aus in der Stadt irgendwie so ein Aufbruch", sagt Viertl. "Die Leute haben sich freiwillig gemeldet. Der Zahnarzt hat Karten abgerissen und die Türen abgesperrt, der Vorhang-Fritze ist an der Kasse gehockt. Da habe ich keinen zu bitten brauchen, die sind einfach da gewesen. Das Schuhgeschäft hat mir den Kleinbus geliehen – 'wir haben eh keine Schuhe zu fahren am Wochenende'. Nicht, dass das absolute Jazz-Freaks gewesen wären – nein, nein, aber die Idee, dass in Burghausen was passiert und dass da was aufgeht, damit habe ich die Leute begeistern können. Es ist eine Gemeinschaft daraus geworden, und das ist heute noch so." Seit jeher sind freiwillige Helfer das A und O des Festivals, zwischen 50 und 70 Personen sind es laut Interessengemeinschaft Jazz in den letzten Jahren gewesen. Helmut Viertl hebt auch hervor: "Das soziale Gefüge in Burghausen ist sehr gut. Durch die Chemie-Industrie haben wir eine riesen Arbeiterschaft, dazu kommen viele Handwerker und Akademiker. Wir haben also hier alles, quer durch: Und diese Leute brauchst du."
Das erste Programm zusammenzustellen war, wie es scheint, auch kein Problem. Joe Viera erzählt, er habe, als der Termin feststand, sofort den österreichischen Trompeter Oscar Klein (1930 bis 2006) angerufen: "Der ist mir gleich eingefallen." Andere Teile des Programms bestritt Viera kurzerhand selbst (siehe oben), und so kam es, dass die fünf Tage "ausgefüllt waren: mit wenigen Besuchern natürlich. Aber uns war von Anfang an klar: Wir müssen das Jahr für Jahr machen, ganz konstant, und dürfen uns durch nichts irritieren lassen."
Durch die Erkenntnis, dass es für die Bevölkerung am wichtigsten sei, dass möglichst viel guter Jazz gespielt wird, so Joe Viera, haben sich die beiden Festival-Macher dann schnell ganz auf die Präsentation von Konzerten verlegt. Allerdings organisierte Joe Viera bereits 1972 zusätzlich die ersten Jazzkurse in Burghausen. "Meine Grundidee ist immer gewesen: Theorie und Praxis gehören zusammen, und das ist auch bei mir im Unterricht so. Ich erkläre zum Beispiel Harmonielehre am liebsten in einer Band, wo man es dann sofort ausprobieren kann. Mir ist mal der Satz eingefallen: Musik ohne Theorie ist blind – und Theorie ohne Praxis taub. Es gehört immer beides zusammen." Und so gehören in der Jazzfestival-Stadt Burghausen die Kurse für Amateure und Profis, die von sehr weit herkommen, seit 1972 zum regelmäßigen Angebot neben vielen Konzerten.
Anfangs stand auf den Plakaten noch "Jazz-Woche Burghausen" – ohne das Wort "international". Aber wenn man Joe Viera fragt, wann das Festival denn international geworden sei, protestiert er energisch: "Das war ja schon 1970 so. Der Oscar Klein war Österreicher und ist mit seiner Schweizer Frau gekommen, der Miriam Klein, der rumänische Pianist Jancy Körössi war dabei – also international waren wir schon im ersten Jahr. Ein nur nationales Festival hatten wir nie im Sinn. Das hätte uns nicht entsprochen. Und dem Jazz sowieso nicht." Um ganz große Sprünge zu machen, war aber zu Beginn das Geld noch nicht da. In seinem Buch von 1989 nennt Joe Viera für 1970 einen Gesamt-Etat von 5.000 D-Mark, für 1976 schon einen von 50.000, denjenigen von 1980 beziffert er auf 200.000 – und den von 1988 auf 300.000. Fürs erste Jahr schätzt er, vermutlich optimistisch, 1.000 Besucher, für 1976 gibt er schon 3.000 an, 1980 registrierte man 6.000 und 1988 rund 8.000. Das ist eine Marke, die in guten Jahrgängen auch im zweiten Jahrzehnt der 2000er Jahre erzielt wurde.
Gute Musik ist immer aktuell, schlechte nie.
Auf diese Art war bereits beim ersten Festival der Grundstein gelegt für eine Unternehmung, die ein paar Jahre später richtig Fahrt aufnahm (siehe dazu auch das Kapitel mit Joe Vieras Festival-Highlights). Der Zeitpunkt dieses Fahrt-Aufnehmens war: 1975. Ein sehr bedeutendes Jahr für das Festival und für die weitere Geschichte des Jazz in Burghausen. Da war es Viertl und Viera gelungen, den Pianisten Oscar Peterson zusammen mit dem Gitarristen Joe Pass zu engagieren – für das Abschlusskonzert Jazzwoche. Im Jahr 1975 fand zudem außerhalb des Festivals ein Doppelkonzert statt, das für Burghausens Jazzgeschichte eine herausragende Bedeutung gewinnen sollte: Am 9. Oktober 1975 gastierten im Stadtsaal nacheinander Ella Fitzgerald (mit dem Tommy Flanagan Trio) und das Count Basie Orchestra. Das waren zwei Konzerte: Das erste begann um 19 Uhr und das zweite um 21.30 Uhr. Helmut Viertl hat in seinem Wintergarten noch das Original-Plakat von damals hängen – riesige, dicke schwarze Lettern auf weißem Grund, etwas vergilbt, aber beindruckend. Joe Viera erzählt, damals seien etliche Besucher in der Pause sofort zur Kasse gerannt, um Karten für das zweite zu kaufen, weil sie merkten, dass hier etwas Besonderes stattfand.
Der 9. Oktober 1975 ist für Jazzfans in Burghausen der möglicherweise wichtigste Tag von allen – ganz egal, ob er nominell zum Festival gehörte oder nicht. Ihm wurden denn auch die ersten beiden Bronzeplatten in der Street of Fame der Altstadt gewidmet. Joe Viera hält es für sehr wahrscheinlich, dass Stars wie Ella Fitzgerald und Count Basie nicht engagiert werden hätten können ohne das Renommee, das Burghausen inzwischen durch das Festival vor allem bei internationalen Agenturen erworben hatte.
9. Oktober – ein offenbar magisches Datum für den Ort und seine musikalische Geschichte: Auf den Tag genau sechs Jahre vor dem Gastspiel Ella Fitzgeralds und Count Basies war ein gewisser Herr Viera in einem Hotel in Burghausen in eine Telefonkabine eingesperrt worden und stand später mit einem anderen Herrn, dessen Nachname mit denselben vier Buchstaben beginnt, stundenlang am Bahnhof, um etwas "Größeres" auszuhecken. So schließen sich manchmal Kreise wie durch eine merkwürdige höhere Einwirkung. Jazzer würden sagen: Das ist alles einfach Timing.
Dieser Text ist das zweite Kapitel des Buchs "It Has Lines in its Face", das die beiden BR-KLASSIK-Musikjournalisten Roland Spiegel und Ulrich Habersetzer geschrieben haben. Das Buch hat 300 Seiten, kostet 29.90 Euro und wurde von der Stadt Burghausen in Kooperation mit BR-KLASSIK herausgegeben. Es ist am 22. März 2019 erschienen.