Das Jazzfest Berlin 2016 existiert seit 1964 und ist das bedeutendste Jazzfestival Deutschlands. Auch 2016 wird es wieder von Richard Williams gestaltet. Roland Spiegel sprach während der Vorbereitung des Festivals mit dem britischen Musikpublizisten - auch über die große aktuelle Präsenz des Jazz in der Popmusik.
BR-KLASSIK: Richard Williams, Jazz scheint im Moment einen starken Einfluss zu haben auf die Popmusik. Das berühmteste Beispiel ist David Bowie, der kurz vor seinem Tod eine Zusammenarbeit mit zeitgenössischen Jazzmusikern eingegangen ist. Wie erklären Sie sich diese Aktualität des Jazz in der Popmusik?
Richard Williams: Sie haben recht, es passiert zur Zeit wirklich einiges. Jazz ist dabei, für die Popmusik wieder relevant zu werden. Nicht nur durch David Bowie übrigens. Nehmen Sie Kendrick Lamar, den Rapper, dessen Album "To Pimp a Butterfly" für viele das Album des Jahres 2015 war und der einen Grammy dafür gewonnen hat. Seine Musik hat starke Jazz-Aromen. Ein Hip-Hop-Künstler, der der Ansicht ist, dass Jazz seiner Musik etwas bringt, sie kreativer, intensiver und vielfältiger macht. Und man hört es an jeder Stelle. Die amerikanische Singer-Songwriterin Julia Holter hatte an der Universität in Kalifornien Kompositionsunterricht und machte sich auch vertraut mit dem Jazz: Sie benutzt Jazz als Farbe. Das ist in der Geschichte der populären Musik in der zweiten Hälfte des zwanzigsten und zu Beginn dieses Jahrhunderts immer wieder passiert. Ray Charles' Musik wurde hauptsächlich von Jazzmusikern gemacht, James Browns Band hatte Jazzmusiker in ihren Reihen, die Musiker auf allen Motown-Platten waren hauptsächlich Jazzmusiker. So etwas erlebten wir später wieder, als die Beatles ein Saxophonsolo in "Lady Madonna" wollten: Sie luden Ronnie Scott ein, einen großen britischen Jazzmusiker. Ich finde, das zeigt, dass Jazz eine Bedeutung hat, die sich in der Musikkultur unserer Zeit fortsetzt. Das ist eine sehr gute Sache.
BR-KLASSIK: Ist das eine Möglichkeit, auch junge Leute mehr für Jazz zu interessieren?
BR-KLASSIK: Sie machen jetzt Ihre zweite Ausgabe des Berliner Jazzfests, und Sie haben gesagt, Sie wollen auch jüngeres Publikum für dieses Festival begesitern. Mit welchen Mitteln wollen Sie das erreichen?
Richard Williams: Das beste Mittel ist es, ein Programm zusammenzustellen, das aus wirklich sehr interessanter, stimulierender und kreativer Musik besteht. Es geht nicht darum, ein bisschen Popmusik mit hineinzuschmuggeln in der Hoffnung, dass junge Leute kommen, um sich das anzuhören. Man muss das junge Publikum nicht durch Tricks locken, sondern es als intelligent genug wahrnehmen, um eigene Entscheidungen zu treffen und auf das höchste Niveau von Kreativität zu reagieren. Aber natürlich ist es wichtig, junge Musiker ins Festival zu holen, um ihnen und ihrem Publikum zu zeigen, dass sie eine Rolle spielen in unserer über fünfzig Jahre alten Institution, dem Jazzfest. Dass dieses Festival bereits ein halbes Jahrhundert besteht, heißt nicht, dass es eine geschlossene Welt ist. Es ist eine offene Welt. Und wir müssen Wege finden, neues Publikum zu erreichen durch Social Media, durch die Art, wie wir Leute ansprechen. Institutionen, die so alt sind wie das Jazzfest Berlin, sind nicht immer gut in solchen Dingen, und da versuchen wir, uns zu verbessern. Aber das Wesentliche ist, Musik ins Programm zu nehmen, die junge Leute faszinieren wird - und ihnen das Gefühl gibt: Das ist etwas Besonderes, bei dem es etwas zu entdecken gibt.
BR-KLASSIK: Was kann man denn entdecken in Ihrem Festival in diesem Jahr?
BR-KLASSIK: Konkreter zu dieser Mission: Was waren die spannendsten Dinge, die Sie bei der Programmplanung des Festivals entdeckt haben - und ans Publikum weitergeben wollen?
Richard Williams: Ich ging nach Paris, auf ein Festival, um mir die Musik einer jungen Frau namens Eve Risser anzuhören: einer jungen Französin, die am Pariser Konservatorium studiert hat. Sie ist Pianistin und Komponistin und hat eine Band, die "The White Desert Orchestra" heißt, eine elfköpfige Band aus jungen französischen Musikern. Ich hörte mir ein Konzert dieser Band an mit einer etwa 70-minütigen Komposition Eve Rissers. Und das war, wie wenn man auf eine Reise mitgenommen würde an Orte, an denen man nie vorher war. Es war das, was Jazz kann. Es löste ungeahnte Gefühle aus. Es war musikalisch ganz außergewöhnlich organisiert. Eine Kombination aus sehr farben- und variantenreicher, manchmal berauschender Komposition und wunderbaren Räumen für Soli. Etwa wie Gil Evans und Duke Ellington solche Kompositionen angingen. Es schien, als habe sie ganz speziell für die konkreten Solisten geschrieben, die sie zur Verfügung hatte. Es war eine großartige Erfahrung. Sie gehört zu den besonders interessanten jungen Musikern zurzeit. Eine andere junge Frau, die im Jazz im Moment sehr interessant ist, ist eine junge Norwegerin: Eine Saxophonistin und Komponistin namens Mette Henriette, die erst um die 25 Jahre alt ist. Sie brachte letztes Jahr ein Album beim Label ECM heraus, und ich halte sie für außergewöhnlich. Sie ist sehr risikofreudig. Sie ist feie Improvisatorin, aber sie hat viel Sinn fürs Komponieren, ein wunderbares Gespür für Klangfarbe und Textur. Ihre Kompositionen sind manchmal sehr kurz. Sie können schon mal nur eine Minute lang sein oder zwei, aber sie ist in der Lage, in diesen zwei Minuten ein eigenes Klang-Universum zu schaffen. Es ist sehr spannend, junge Musiker zu hören, die so innovative Dinge anstellen.
Das Gespräch führte Roland Spiegel für BR-KLASSIK.
Die Berliner Festspiele veranstalten das 53. Jazzfest Berlin vom 1. bis 6. November. In diesem Jahr in einer "extended version" mit zwei Vorveranstaltungen.