Beim Jazzfest Berlin gibt es jedes Jahr Jazzgrößen zu erleben, die sonst selten nach Europa kommen. Eine Gelegenheit, viele spannende Interviews zu führen. Das ist aber eine logistische und konditionelle Herausforderung. Ulrich Habersetzer ist zum Interview-Speed-Dating aufgebrochen.
Berlin ist eine große Stadt. Man kann hier Stunden in der U-Bahn verbringen, um von einem Ende der Stadt ans andere zu kommen. Selbst der Stadtteil Charlottenburg ist groß, einmal über den Kudamm spazieren, das macht man nicht in ein paar Minuten.
Führt man Interviews während des Jazzfests Berlin, spürt man diese Größe am eigenen Leib, und zwar in den Beinen. Schnell von einem Hotel zum anderen, der Künstler hat keine Lust zu warten. Als Interviewer muss man das oft.
Meine diesjährige Jagd nach jazzenden Gesprächspartnern beginnt im Mark Hotel. Mette Henriette heißt die Dame, hat Ende letzten Jahres eine beeindruckende CD vorgelegt und gilt als nicht ganz einfach bei Interviews. Woher diese Information kommt, keine Ahnung. Irgendjemand aus der Szene.
Also fünf Minuten früher in der Lobby sein, man weiß ja nie. Die Pressesprecherin des Jazzfests ist schon da. Mette verspätet sich. Ein kleines, etwas unscheinbares Mädchen kommt. Ein Büro ist frei. Nein, lautet die Antwort von der Rezeption, man könne die Hintergrundmusik nicht ausschalten. Also singt Frank Sinatra, während Mette Henriette über ihre musikalischen Anfänge in einer Trondheimer "Marching Band" berichtet.
Dann ein Foto, schnell, mit dem Smartphone. Sie zuckt fast zusammen. Nee, das hätte sie jetzt nicht so gerne, da sei sie heikel. Kein Wunder, ihre Cover-Bilder hat der legendäre Musiker-Fotograf Anton Corbijn gemacht. Auf meinem Bild dann halt nur der leere Stuhl.
Nächster Tag, erster Termin: Wadada Leo Smith, amerikanische Ikone des freien Jazz. Sein Konzert gestern war eine Erneuerungskur für die Ohren.
Knapp 15 Minuten von einem Hotel zum anderen. Jetzt aber los.
In der Lobby steht sie schon: Ingrid Laubrock, Saxophonistin. Sie plaudert mit jemandem. Ich stelle mich dezent daneben. Nicht zu nah, nicht zu schnell unterbrechen. Die Stimmung soll ja gut sein.
Dann sagt sie zu ihrer Gesprächspartnerin: "I'm waiting for somebody". Das bin ich. Vorstellen, immer die gleichen Sprüche: Ich bin vom Bayerischen Rundfunk, wir haben eine ARD-weite Livesendung Samstagnacht mit Highlights vom Festival, dafür brauche ich Material.
Alle seien genervt dort von dieser unsäglichen Präsidenten-Wahl. Es soll endlich vorbei sein und natürlich, sie kennt keinen einzigen Musiker, der Trump wählen würde. Jetzt muss sie aber los, Probe für den Abend, sie hat noch nie mit der Pianistin Aki Takase zusammengespielt. Wird spannend.
Weiter zum Haus der Festspiele, gleich die Straße runter, aber auch nur noch sechs Minuten. Myra Melford, Pianistin aus Illinois, wartet schon in ihrer Garderobe. Ob sie noch schnell was essen darf? Klar, ich muss sowieso die Speicherkarte wechseln. Ein schönes Gespräch über Struktur und Freiheit in der Musik. Über ihre Kompositionen und über den hohen Anteil von weiblichen Musikern bei diesem Jazzfest. Es sollte einfach so sein. Nicht drüber diskutieren, nicht extra unterstreichen, sagt sie. Aber jetzt muss sie schlafen. Um Mitternacht ist sie ins Bett gegangen in Belgrad und um 4 Uhr früh los zum Flughafen.
40 Minuten Zeit bis zum nächsten Interview. Was für eine Erholung. Der Trompeter Ryan Carniaux ist der nächste. Er spielt ganz lyrisch und fein, tritt heute aber zum zweiten Mal mit den Free-Jazz-Giganten des Globe Unity Orchestras auf. Ein schneller Blick zum Soundcheck. Ryan ist nicht da. Ich kenne ihn vom Sehen.
Der Soundcheck ist um, die Kollegen wissen nichts. Der Chef der Band, Alexander von Schlippenbach holt sich in der Kantine eine Erbsensuppe. Bevor er den Löffel in die Hand nimmt, schnell die Frage: Kommt Ryan? Er hat seinen Zug verpasst, aber gleich ist er da. Aus gleich wird später und aus später wird "keine Ahnung wann er kommt".
Free Jazz und die heutige Gesellschaft, sein Klavierstil in einer Band mit 15 Bläsern und zwei Schlagzeugern. Wo geht es hin mit einem Ensemble, das 1966 gegründet wurde? Frage und Antworten. Danke fürs Gespräch, bin gespannt aufs Konzert. Die Tür geht zu. Mist, Foto vergessen, schon wieder.
Vielleicht klappt‘s ja nachher noch, und vielleicht taucht der verschollene Trompeter noch auf. Interview-Sammeln in Berlin: tolle Begegnungen, aber müde Füße.