Schon 1949 nahm er mit Miles Davis und Lennie Tristano wegweisende Platten der damals neuen Richtung "Cool Jazz" auf. Bis ins hohe Alter spielte er immer noch so oft wie möglich. Der Altsaxophonist Lee Konitz war ein Langzeit-Erfolgreicher. Ein Musiker mit eigenem Ton und eigenem Kopf. Am 15. April ist er im Ater von 92 Jahren an den Folgen einer Corona-Infektion gestorben.
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Er stellte sich einfach auf die Bühne und fabulierte. Mit seinem Instrument. Solo. Ein kleines Motiv baute er immer weiter aus. Als würde er kleine Steinchen unterschiedlicher Farben aneinanderlegen und jedes Mal die Farb-Abfolgen ein kleines bisschen ändern. Ein, zwei Elemente blieben gleich, ein neues kam hinzu, dann folgten wieder vertraute Farben, abermals wieder neue. Faszinierend war das zu verfolgen – zumindest bei einem musikalischen Spontan-Baumeister wie ihm. Denn das Konstruieren von Melodien aus dem Stegreif – man kann das auch ganz akademisch "motivische Improvisation" nennen – beherrschten nur wenige so traumwandlerisch gelassen wie er. Der Altsaxophonist Lee Konitz pflegte diese Kunst des Jazz-Spielens fast sieben Jahrzehnte. Und er schaffte es, seine Hörer und sich selbst dabei immer wieder zu überraschen. Auch deshalb hatte er unzählige Bewunderer, unter Fans wie unter Musikerkollegen aller Generationen.
Am 15. April ist er im Alter von 92 Jahren im Greenwich Village in New York verstorben. Wie sein Sohn mitteilte, an den Folgen einer Infektion mit dem Corona-Virus.
Lee Konitz war oft an unterschiedlichen Spielorten in Bayern zu erleben. Der Bayerische Rundfunk hat Aufzeichnungen mit ihm im Studio 2 in München, im Birdland in Neuburg und bei der Internationalen Jazzwoche Burghausen gemacht. Im März 2012 konnte man in Burghausen einen typischen Konzertanfang mit einer freien Solo-Einleitung von Konitz verfolgen, bei dem sich dann allmählich die Band ins Geschehen einfädelte. Und außerdem erlebte man auch den Überraschungskünstler Lee Konitz. Denn zur Verblüffung der Veranstalter, des Technik-Teams und später auch der Fans und nicht zuletzt einiger daraufhin verstimmter Kritiker bestand Lee Konitz darauf, dass die ganze Band bei diesem Konzert ohne Verstärkung spielte – in einer Halle, die über 1.000 Besucher fassen kann. Damit hebelte er kurzerhand die Hörgewohnheit aus, die man bei solch einem meist kraftvoll beschallten Festival hat. Hier war man plötzlich vor die Aufgabe gestellt, auf zurückgenommene, sehr leise Töne zu lauschen.
Jazz-Kammermusik im ganz radikalen Sinn war das. Damals übrigens mit einer herausragenden jungen Band mit internationalem Ruf, dem Trio "Minsarah" des Pianisten Florian Weber. Lee Konitz: ein Eigensinniger. Ein leiser Aufsässiger. Einer, dem Konventionen egal waren. Und der gern alle auf die Probe stellte – auch die Bandmitglieder, denen er häufig nicht sagte, welches Stück einer vereinbarten Auswahl er wann spielen würde und die dann jeder Musker aufgrund der bei Konitz nie gleichen Anfangstöne erraten musste. Jazz: eine ästhetische und intellektuelle Herausforderung, ein Spiel für Leute, die das Unvorhersehbare schätzen. Und genau das war die Stärke dieses Musikers.
In Chicago, Illinois, kam Konitz am 13. Oktober 1927 zur Welt als Sohn jüdischer Einwanderer aus Österreich und Russland. Mit elf bekam er eine Klarinette und erhielt Unterricht. Die Klarinette tauschte er später gegen ein Tenorsaxophon, und dieses schließlich gegen dasjenige Instrument, mit dem ihn die meisten Jazzfans kennen: das heller klingende Altsaxophon, das, so drückte er es selbst aus, später sein persönliches Sprachrohr wurde. In seinen Worten: "Das Altsaxophon – das ist gewissermaßen meine Stimme."
Lee Konitz und sein Bruder hörten in der Jugend Swing-Big-Bands, vor allem diejenige von Benny Goodman. Das löste bei Konitz den Wunsch zum Musikmachen aus. Mit 22 Jahre begann er seine professionelle Laufbahn, zwei Jahre später begegnete er dem Pianisten Lennie Tristano, der einen intellektuell anspruchsvollen, komplexen Jazz mit ganz neuen Ansätzen spielte, was starken Einfluss auf Konitz hatte. Mit Tristano machte er in einer kleinen Cocktail-Bar experimentelle Musik. 1947 schloss sich Konitz der berühmten Big-Band des Pianisten Claude Thornhill an, wo er mit anderen später sehr bedeutenden Kollegen wie Gil Evans und Gerry Mulligan zusammentraf.
In seinem langen Musiker-Leben hat Konitz über 150 Alben aufgenommen. Seine Diskographie ist eine lange Liste mit vielen Querverweisen zu berühmten Jazzmusikern aus unterschiedlichsten Ländern. In den Bands amerikanischer Größen wie Stan Kenton, Lennie Tristano, Gerry Mulligan, Dizzy Gillespie spielte er mit – und mit Warne Marsh, Zoot Sims, Max Roach, Chet Baker, Jimmy Giuffre, Attila Zoller, Albert Mangelsdorff, Martial Solal und vielen anderen mehr realisierte er eigene Projekte. Eines aber war ihm stets wichtig: Er wollte seine künstlerische Freiheit behalten und setzte daher nie auf den kommerziellen Erfolg. Zwischendurch zog er sich mehrmals auf Lehrtätigkeiten zurück, um Abstand zu gewinnen.
Ein Eigenwilliger war er schon immer. In seiner Frühzeit war Lee Konitz einer der wenigen Altsaxophonisten, die nicht wie Charlie Parker, der damalige König dieses Instruments, klingen wollten: Statt auf sprudelnde, immer aufs Äußerste gespannte Energie setzte Konitz lieber auf intellektuelle Gelassenheit des Tons – und klang, auch wenn er schnell spielte, immer ungemein relaxed. Er sah zunächst aus wie ein Student: ein schmaler, schüchtern wirkender Denkertyp mit dick umrandeter Brille und schickem Anzug mit Fliege, Krawatte oder aber trendig nach oben gebogenem Hemdkragen. Später änderte sich das Bild: Westen, Pullover, legere Jacken in Allzweck-Beige und in den letzten Jahren auch gerne Holzfällerhemden und grobe Cordjacken.
Sein Interesse an der Musik war immer wach, aber hatte stets denselben Kern: sich und andere zu überraschen mit Dingen, die Konitz vorher möglichst nie genauso gespielt hatte. "Er hat jedes Mal etwas Neues zu sagen. Er ist immer noch ein knallharter Typ", sagt der Schlagzeuger Kenny Washington, der als Produzent für die 2017 erschienene, jüngste CD von Lee Konitz verantwortlich zeichnet. "Frescalalto" heißt die CD – mit einer italienischen Wortneubildung, die so viel bedeutet wie "Unverbraucht am Altsaxophon". Der Hör-Eindruck bestätigt es. Zwar ist der aktuelle Ton von Lee Konitz auf dem Album nicht mehr so hinreißend ausgewogen und geschmeidig wie in jungen und mittleren Jahren. Aber er fesselt immer noch, da Konitz Wert darauf legte, seine musikalischen Aussagen jedes Mal neu zu formulieren. Evergreens wie "Stella by Starlight", "Cherokee" oder "Alone together" hat er viele Male eingespielt. Und doch klingen sie jedesmal anders, da sie stets ein Abenteuer der Entdeckung neuer Wege sind.
Lee Konitz, der auch in den letzten Jahren viel unterwegs war und vor seinem 85. Geburtstag oft bis zu 200 Auftritte im Jahr hatte, staunte selbst über seine lange Karriere und die Bedeutung, die auch seine ganz frühen Stationen für Jazzkenner auf der ganzen Welt hatten, auch sechzig Jahre nach den Aufnahmen. "Es ist ein totales Wunder für mich! Ich bin froh, wenn ich einfach die Gelegenheit habe, zu spielen. Doch wenn Leute immer noch von den Aufnahmen sprechen, die ich mit Lennie Tristano, mit Stan Kenton, mit Miles Davis und Gerry Mulligan gemacht habe, sage ich 'Danke Gott', das freut mich." Das "Danke Gott" sagte er auf Deutsch in einem englisch geführten Interview.
Die schöne und einzigartige Kunst dieses Musikers ist nun nur noch auf Konserve nachzuvollziehen: auf den vielen Alben, die Konitz aufnahm, und in Videos. Mindestens drei Generationen von Musikern trauern nun über einen Kollegen, von dem sie viel gelernt haben, weil er sie stets bis zu den äußersten Grenzen forderte – und die Fans um einen Unverwechselbaren.
All that Jazz am 16. April 2020
Der leise Aufsässige: Nachruf auf den Saxophonisten Lee Konitz, der zu den bedeutendsten Jazzmusikern seit den späten 1940er Jahren gehörte, bereits mit Miles Davis, Lennie Tristano und Gerry Mulligan bahnbrechende Aufnahmen machte und in jüngerer Zeit mit herausragenden Musikern seiner Enkelgeneration spielte. Lee Konitz, geboren 1927 in Chicago, ist am 15. April 2020 an den Folgen einer Corona-Infektion in Greenwich Village, New York, gestorben.
Moderation und Auswahl: Roland Spiegel