Was für ein Skandal! Mit dem vierten Klavierkonzert op. 58 stellt Beethoven die Tradition auf den Kopf. Nicht das Orchester beginnt und bereitet dem Solisten den Boden, sondern der Pianist persönlich eröffnet und setzt damit fast schon ein politisches Statement. Alle großen Pianisten haben dieses Konzert aufgenommen und es kommen ständig neue Interpretationen dazu. Wir haben für Sie die Besten zusammengestellt.
Inmitten gesellschaftlichen Aufbruchs, Hippiebewegung, Antikriegsdemos und "Make love not war"-Parolen nahmen Emil Gilels und das Cleveland Orchestra unter George Szell dieses Konzert im Jahr 1968 auf. So befremdlich manches hier auch klingen mag – das langsame Tempo im ersten Satz zum Beispiel – der Russe Emil Gilels gilt nicht umsonst als einer der bedeutendsten Beethoven-Interpreten schlechthin. Es lohnt sich, eigene Hörgewohnheiten fallen zu lassen und sich auf seine Lesart einzulassen: Jeder Ton, jede Phrase, jede Farbschattierung ist gründlich durchdacht und entsprechend differenziert ausgestaltet. Das getragene Tempo kann man als Vergrößerungsglas auf dieses scheinbar vertraute Werk einsetzen und man wird einiges entdecken, was einem in anderen Aufnahmen entgangen ist. Ein Must have aus den historischen Aufnahmen dieses Konzertes.
Einer, der sich wie Gilels viel und oft mit den Klavierwerken Beethovens befasst hat, ist Claudio Arrau, der chilenische Grandseigneur am Klavier. 1976 hatte er ein Benefizkonzert für Amnesty International beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks gegeben, mit dem Seelenmusiker Leonard Bernstein am Pult. Ein historisches Dokument mit entsprechend mittelmäßiger Klangqualität, aber trotzdem hörenswert, wie Arrau mit immer kernigem Anschlag und einer angenehmen Gelassenheit dieses Konzert interpretiert. Kleine Holperer werden durch die Möglichkeit, dem Meister direkt auf die Finger zu schauen, locker wettgemacht.
Pollini und Abbado mit den Berliner Philharmonikern sind ein glücksbringendes Duo. Die beiden Italiener harmonieren perfekt in ihrem Musizierstil und schwimmen gemeinsam auf der Beethovenwelle. Gemeinsam, das heißt auch, dass sie weniger auf das "Concertare" im Sinne eines Wettstreits setzen, sondern viel mehr auf die sinfonische Verflechtung zwischen Solist und Ensemble, das Beethoven so klug angelegt hat. Pollini musiziert wie immer auf seinem eigenen Instrument, dem "Fabbrini", einem vom italienischen Klavierbauer Angelo Fabbrini bearbeiteten Steinway-Flügel, der nach Aussage Pollinis klanglich den Instrumenten des 19. Jahrhunderts nahekommt. "Trennschärfer in den Registern als ein gewöhnlicher Steinway“. Dabei spielt der Großmeister ebenso zupackend wie leichtfüßig mit immer wieder lichtvoll-strahlendem Klang und die Berliner Philharmoniker mit vollmundigem, aber nie zu breitem Orchestersound.
Eine quicklebendige Einspielung ist das Livekonzert des jungen kanadischen Pianisten Jan Lisiecki mit der Academy of St Martin in the fields im Berliner Konzerthaus von 2018. Der 23-jährige Lisiecki war eingesprungen für Murray Perahia und warf sich mit jugendlichem Elan und souveränem, abwechslungsreichen Spiel in den pianistischen Ring. Die Spontaneität – Lisiecki und die Academy sind sich hier zum ersten Mal begegnet – ist hörbar und punktet mit erfreulichen Überraschungsmomenten. Lisiecki groovt und leitet das Ensemble vom Flügel aus.
Eine der ersten Einspielungen historisch informierter Aufführungspraxis haben Steve Lubin und Christopher Hogwood 1988 vorgelegt – durch die schlankere Orchesterbesetzung ist sie klanglich näher dran an der Uraufführungssituation dieses Konzertes, als rund 20 Ensemblemusiker und Beethoven selbst an einem Hammerklavier gespielt haben. Lubin hat sich deshalb auch für ein historisches Instrument entschieden: trocken im Klang, aber farbenreich und klanglich klarer abgegrenzt als ein moderner Flügel. Das hat was!
Eine Rarität ist die Fassung dieses Konzertes für Klavier und Streichquintett, zu Beethovens Lebzeiten entstanden. Der Meister selbst hatte Hand angelegt und den Solopart dafür umgeschrieben, das Arrangement für Streichquintett hat er einem anderen überlassen. Diese kammermusikalische Version ist eine echte Entdeckung, die manche Struktur freilegt, die sonst im sinfonischen Ganzen untergeht. Aha-Effekte gibt's haufenweise – dort, wo Beethoven den Solopart verändert hatte. Das französische Quatuor Varèse hat es eingespielt, gemeinsam mit dem Pianisten Stéphanos Thomopoulos.
Sendung: "Interpretationen im Vergleich" am 24. März 2020 ab 20:05 Uhr auf BR-Klassik