Die Glücksgöttin Fortuna betritt die Bühne der Musikgeschichte. Im Publikum sitzt Godela, die Tochter von Carl Orff: "Ich weiß nur, dass es glühend heiß war und eine vibrierende Spannung herrschte, weil niemand gewusst hat, ob das gutgehen kann. Es war fremd für die Leute: Es war keine Oper, es war kein Tanz, kein Ballett. Was war es denn nun eigentlich?"
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Ein Glücksgriff waren sie, die Carmina Burana: Lieder auf Texte einer mittelalterlichen Handschrift aus dem Kloster Benediktbeuern. Und ein Wagnis, wie sich Orffs Tochter erinnert: "Chorwerk. Und Lateinisch. Mein Gott, im Dritten Reich, das war so unmöglich. Man sprach Deutsch, sonst gar nichts. Und ja, wir warteten und zitterten und warteten und zitterten. Und dann kam das bei der Uraufführung unerhört gut an."
Nicht aber bei den NS-Kulturkontrolleuren: Die Reichsmusikkammer beschwert sich über die undeutsche Musik und schüchtert durch ihre messerscharfe Kulturpropaganda selbst das Publikum ein. So etwa bei der zweiten Aufführung in Graz, zu der auch reihenweise Parteileute in Uniform kommen. Während es bei der Uraufführung noch nach jedem Teil großen Applaus gibt, klatscht bei der zweiten Aufführung niemand. "Wir haben also alle die Luft angehalten. Und ich saß in der Proszeniumsloge, ich habe schlicht eine Sauwut gekriegt und schreie in das Publikum hinein: 'Warum klatschen denn die Scheißkerle nicht?' Und dann gab es ein Riesengelächter, das war wunderschön, und Applaus", berichtet Godela Orff.
Der braune Sumpf hätte die Carmina gerne verschlungen, aber der Glücksgöttin Fortuna bricht man so leicht nicht das Genick. Spätestens als Leopold Stokowski das Werk 1954 in der New Yorker Carnegie Hall aufführt, erobern die Carmina Burana die Welt: Ihr Pathos, ihre elementare Kraft, ihre Eingängikeit haben sie allerdings auch in Spähren befördert, wo Orff sie wohl kaum haben wollte. Die Carmina geistern durch Bierwerbung, begleiten Boxkämpfe oder Reitturniere und selbst im Konzertsaal erscheinen sie oft ganz anders, als sie von Orff gemeint waren - diese "Beuroner Gesänge mit magischen Bildern", wie der komplette Titel lautet.
Das Wichtige ist der Text. Der wurde mit den Mitteln der Musik Klang und mit den Mitteln der Darstellung Bild. Die Sprache ist Geist und der Geist, der hinter diesen Worten ist, der wurde lebendig.
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