Ob "Lindenbaum", "Don Carlos" oder "Erlkönig" – über 400 Schallplatten und CDs hat Dietrich Fischer-Dieskau aufgenommen. Die beiden BR-KLASSIK-Redakteure Annika Täuschel und Volkmar Fischer sind Fischer-Dieskau-Experten und haben einige legendäre Aufnahmen unter die Lupe genommen – und sind dabei nicht unbedingt immer einer Meinung.
Volkmar Fischer: Fangen wir mit einem der populärsten Lieder aus wahrscheinlich dem berühmtesten Zyklen überhaupt an: "Der Lindenbaum" aus der "Winterreise". Schubert komponiert es vom Duktus her wie ein einfaches Volkslied. Aber mit der Schlichtheit hat’s Fischer-Dieskau offenbar nicht so. Er neigt dazu, das eigentlich Unkomplizierte zu verkünsteln und zelebriert dadurch seine eigene Kunstfertigkeit. Wenn ich das höre, leide ich darunter, wie er dieses fragile musikalische Gebilde interpretatorisch fest umklammert. Das tut dem Lied nicht gut, das auf jede noch so kleine Überbetonung wie eine Mimose reagiert. Anders gesagt: Die von Schubert angestrebte Rührung stellt sich bei mir nicht ein.
Annika Täuschel: Das Lied mag formal schlicht und im virtuosen Sinn geradezu "harmlos" sein, aber inhaltlich passiert ja auch hier ein kleines Drama: eine sehr emotionale Begegnung des "lyrischen Ichs" mit dem Lindenbaum, ein äußerst schmerzvoller Abschied, am Ende gar Todesahnung. Ich finde, dass Fischer-Dieskau diese emotionalen Komponenten eindringlicher und soghafter als viele Kollegen gestaltet (man vergleiche Jonas Kaufmann oder Hermann Prey). Warum: Weil er Spannungsbögen erzeugen kann wie kein zweiter, immer geht es nach vorne, ins Ungewisse … sei das Tempo auch noch so verhalten. Und ich sehe auch kein Verkünstelung, sondern seine Fähigkeit, deutlich unterscheidbar und künstlerisch nachvollziehbar in die beiden "Rollen" dieses Zwiegesprächs schlüpft (das Ich und den Baum). Also in mir blutet es.
Volkmar Fischer: Na, immerhin eine von uns ist gerührt. Sein Liedbegleiter Alfred Brendel gefällt mir hier übrigens auch nicht. Er will demonstrieren, dass er ein überragender Kenner von Schuberts Klavierkompositionen ist – dafür ist dieses Lied völlig ungeeignet! Seine punktuell gesetzten Ausrufezeichen im "Lindenbaum" wirken unangemessen. Am liebsten möchte ich ihm dasselbe zurufen wie dem Sänger: Weniger ist mehr!
Annika Täuschel: Mich stört eher, dass beide zumindest hier nicht als Paar, als zwei Seiten einer Medaille agieren. Für mich spielt Brendel "seinen" Part in sich schon stimmig, aber er ist nicht das doppelte musikalische Netz unter Fischer-Dieskaus Gesang.
Volkmar Fischer: 1985 hat Fischer-Dieskau diese "Winterreise" aufgenommen, seine vorletzte von insgesamt zehn zwischen 1948 und 1990! Kaum ein Sänger hat sich ernsthafter und intensiver mit diesem Gipfelwerk auseinandergesetzt. Allerdings hilft die wachsende Erfahrung und Reife überhaupt nicht, weil der Gesang mit den Jahren immer unnatürlicher klingt: Je älter Fischer-Dieskau wird, desto übertriebener deklamiert er, desto weniger achtet er auf die musikalische Linie.
Annika Täuschel: Da kann ich nur dazu anregen, auf YouTube Interpretationsvergleiche anzustellen (Kaufmann, Prey, Quasthoff …). Da wird man wird vieles nicht finden, was Fischer-Dieskau leistet. Für mich die einzige Ausnahme: Christian Gerhaher und Gerold Huber, im 21. Jahrhundert einsame Spitze.
Volkmar Fischer: Oper und Dietrich Fischer-Dieskau – das ist wie Krapfen mit Senf: passt nicht zusammen. Für viele Partien (Papageno etc.) gestaltet er zu verkopft und zu akademisch. Wo ist das Gefühl, wo die Musikalität?
Annika Täuschel: Okay, da ist was dran. Aber das große Freundschafts-Duett aus Verdis "Don Carlo" mit Fischer-Dieskau als Posa und Carlo Bergonzi in der Titelpartie ist trotzdem brillant. "Insiem vivremo, e moriremo insieme" – zusammen werden wir leben, und zusammen sterben – die hier noch ungebrochene, unversehrte Freundschaft höre ich in jeder Note. Das Bekenntnis, mit dem anderen, dem Seelenverwandten gemeinsame Sache zu machen, spiegelt sich auch musikalisch. Absolut gemeinsame Linienführung, keine Stimme dominiert, triumphiert, keiner stellt sich über den anderen. Keine Verkünstelung, keine Egos, kein Wettkampf darum, wer länger und lauter als der andere singen kann, sondern ganz im Gegenteil: kammermusikalisches Duettieren, aus eins und eins wird hier mehr als zwei. Auch, weil beide die Timbres so anzugleichen wissen, dass man beim Unisono im Schlussteil (ab Minute 4:15) fast gar nicht mehr zwischen beiden unterscheiden kann. (Kleine Randnotiz: Wer mehr davon möchte: Im "War Requiem" von Benjamin Britten macht Fischer-Dieskau dasselbe mit Peter Pears).
Annika Täuschel: Dennoch: Technisch und stimmlich singt Fischer-Dieskau makellos, alles klingt rund und voll, ist unangestrengt und von beachtlicher Strahlkraft. Intonatorisch ist alles perfekt, und wüsste ich nicht, dass hier ein Deutscher singt, würde ich glatt von der ein oder anderen Prise "italianità" sprechen.
Volkmar Fischer: Zum Thema Stimmtimbre gehen die Meinungen oft auseinander: eine Geschmacksfrage! Mir fehlen im Bariton Fischer-Dieskaus vor allem warme, samtene Farben, die viele italienische Vertreter des Fachs von jeher mitbringen. Manchmal können sogar Tenöre damit punkten – einer wie sein Duett-Partner Carlo Bergonzi zum Beispiel. Ihm lag Verdi wirklich im Blut, während sich Fischer-Dieskau den Posa "nur" perfekt angeeignet hat.
Volkmar Fischer: Bleiben wir bei der Oper, schauen wir uns den Don Giovanni von Fischer-Dieskau an. Die Rolle: ein Held, ein Verführer, ein Eroberer. Aber auch: ein Verfolgter, ein Untergehender, am Ende ein Gebrochener. Wenn Fischer-Dieskau die "Champagner-Arie" singt, dann selbstverständlich mit aller von dieser rasanten Bravournummer geforderten Virtuosität. Leider auf Deutsch statt original Italienisch, aber das ist der Zeit geschuldet, die Aufnahme ist von 1961. Aber die sozusagen abgehackte, konsonantenreiche deutsche Übersetzung des Libretto-Textes absolviert er punktgenau.
Annika Täuschel: Genau das finde ich überhaupt nicht. Hier lässt – bei allem Verständnis für die halsbrecherischen Schwierigkeiten der Arie – meine Begeisterung für Fischer-Dieskaus immerwährende Verstehbarkeit aller Worte zu wünschen übrig: Ich habe einige Sekunden gebraucht, um zu merken, welche Sprache es ist … Die Stimmführung, die Atemtechnik sind trotzdem beachtlich.
Volkmar Fischer: Ich habe aber ein Problem mit der Selbstsicherheit, die Fischer-Dieskau stimmlich ausstrahlt. Man erkennt das auch optisch gut in der Art, wie er sich an der Rampe aufbaut: Hier steht ein unsympathischer eitler Kerl vor uns, der das "Kavaliersdelikt", zum Mörder geworden zu sein, längst unter den Tisch fallen gelassen hat. Mir persönlich sind Interpreten lieber, die den gehetzten Tonfall der Arie als erste Anzeichen der Gebrochenheit Giovannis darstellen, und wenn nur mimisch oder gestisch.
Annika Täuschel: In Schuberts "Erlkönig" zeigt Fischer-Dieskau, was er in Perfektion beherrscht: musikalisches Geschichten-Erzählen. Das ist kein Liedgesang im üblichen Sinn, sondern eine fesselnde akustische Reise in eine Fantasiewelt. Die drei Personen (Vater, Sohn, Erlkönig) und ihre jeweiligen Charaktere sind deutlich zu erkennen. Der Sohn: ängstlich, verzweifelt, gerät immer mehr in Panik. Der Vater: lange relativ gelassen, in sich ruhend, streng vielleicht, aber nüchtern; erst am Ende ("den Vater grausets") packt auch ihn die nackte Angst. Und der Erlkönig: verführerisch, lockend, hinterhältig, surreal, ungreifbar und doch total präsent. Je länger ich Fischer-Dieskau zuhöre, desto mehr geht alles unter die Haut. Am Ende stellen sich die Nackenhaare auf, und ich habe das Gefühl, gerade noch mal selbst davon gekommen zu sein. Das lebt und atmet und ist spannend wie ein Horrorthriller. Auch wegen der Verstehbarkeit der Worte – Fischer-Dieskaus Mantra. Ich verstehe ALLES: akustisch, intellektuell und emotional. Nichts ist überpointiert oder verkünstelt, nirgendswo passiert etwas zum Selbstzweck.
Volkmar Fischer: Klar, das ist natürlich eine Traumkonstellation für Fischer-Dieskau, dass er sich hier in drei verschiedene Gestalten hineinversetzen kann. Schließlich genügt es gerade ihm sonst nie, einfach nur das poetische Subjekt eines Gedichts oder den Erzähler eines Geschehens zu transportieren. Immer lässt er zusätzlich auch seine eigene Person und damit die historische Distanz zum Lied spüren. Beim "Erlkönig" hingegen ist endlich dieser kopfgesteuerte, oft unterforderte Sänger voll ausgelastet mit der Aufgabe, mehrfach die Rolle zu wechseln. Und zugegeben: Darin brilliert er wie kaum ein Kollege.
Annika Täuschel: Gerald Moore am Klavier ist außerdem – bei den vielen Klavierbegleitern, die Fischer-Dieskau hatte – der ideale Partner. Er schafft immer im selben Timing mit dem Sänger die nötigen Wandlungen, die Verschärfungen, die Zuspitzung, die sich stetig steigernde Bedrohung. Quasi ein "duo infernale" auf einem Höllenritt.
Volkmar Fischer: Die Bereitschaft von Moore, im Hintergrund zu bleiben, ohne sich jemals ungebührend nach vorne zu drängen, ist wirklich bewundernswert. So kommt natürlich die "Lichtgestalt" des Sängers besser zum Strahlen, gleichzeitig hält der Pianist unauffällig die Fäden des Geschehens in Händen.
Annika Täuschel:1970 ist diese Aufnahme entstanden. Mir gefällt sie von den diversen Fischer-Dieskau-"Erlkönigen" am besten. Präzision, Timing, Artikulation, Spannungsbögen, Perspektivwechsel, bei mir bleiben da keine Wünsche offen.
Volkmar Fischer: Für Glücksfälle dieser Art wurde irgendwann von irgendwem der Begriff "Sternstunde" geprägt!