Es ist ein bisschen wie mit Marie Curie. Man muss sie nicht kennen, um den Strom aus dem Atomkraftwerk aus der Steckdose zu ziehen - aber es war eben genau sie, die die Radioaktivität entdeckt hat. Dietrich Fischer-Dieskau ist vielleicht auch nicht allen U30-Musikfans gegenwärtig, trotzdem war er es, der den klassischen Liedgesang geprägt hat, ihn verfeinert und auf ein Niveau gehoben hat, an dem sich heute jede und jeder messen lassen muss.
Der Bariton Fischer Dieskau wurde 1925 in Berlin geboren, die Eltern bemerken das Talent und den Willen des Sohnes und fördern die Gesangsausbildung. Durch den Einzug zur Wehrmacht und die Kriegsgefangenschaft in Italien geriet die ins Stocken, doch Fischer-Dieskau arbeitete selbst unter diesen Umständen ehrgeizig und autodidaktisch weiter. Die Belohnung dafür folgt rasch: bereits im Januar 1948 singt er für den RIAS Schuberts Winterreise und wird wenige Monate später, ebenfalls in Berlin, auf die Opernbühne verpflichtet. Was dann folgt, ist eine Sängerkarriere, die bis heute beispiellos ist.
Es wird sich irgendwann in der Zukunft zeigen, ob diese Dinge noch einen Wert haben oder nicht. Wenn ja, umso besser. Wenn nicht, habe ich mit Kartoffeln gehandelt.
Mit Kartoffeln hat er definitiv nicht gehandelt, Dietrich Fischer-Dieskau. Ikone, Monolith, Legende, Gigant, Kulturinstitution, Jahrhundertsänger. Das sind nur ein paar der Superlative, die die Lebensleistung und die künstlerische Bedeutung von Dietrich Fischer-Dieskau zu fassen versuchen.
"Lindenbaum", "Don Carlos", "Don Giovanni" und "Erlkönig" – die Aufnahmen mit Dietrich Fischer-Dieskau gelten als legendär. Aber warum eigentlich? Und finden das wirklich alle? BR-KLASSIK-Redakteure Annika Täuschel und Volkmar Fischer sind jedenfalls nicht einer Meinung.
Gut vier Jahrzehnte lang dauerte die beispiellose Karriere von Dietrich Fischer-Dieskau, noch heute ist allein die schiere Anzahl seiner 400 Schalplatten und CDs verblüffend. "Ich war allein auf weiter Flur", hat er selbst gesagt. Und ja: Dietrich Fischer-Dieskau und Liedgesang, das waren unmittelbar nach dem Kriegsende und bis weit in die 1970er- und 1980er-Jahre ein Synonym. "Mir wurde ja übelgenommen, dass man mich verstand, dass der Text deutlich ausgesprochen wurde", merkte Fischer-Dieskau einst an.
Überbetonung der Sprache, das ist ja fast schon eine Manie, bei den Kritikern gewesen.
Die Verstehbarkeit des Gesungenen war für Dietrich Fischer-Dieskau unverhandelbare Maxime. Brigitte Fassbaender, oft seine Bühnenpartnerin und selbst gefeierte Liedinterpretin, erinnert sich mit Faszination:
Wo ich als junge Sängerin oft großzügig gehudelt habe, da hat er akribisch getüftelt.
Mit seinem Gestaltungswillen hat Dietrich Fischer-Dieskau nicht nur permanent die eigenen Ansprüche hoch gehalten, sondern Generationen nach ihm Aufgaben gestellt. Ausnahmslos alle – Christian Gerhaher, Matthias Goerne, Dietrich Henschel, Olaf Bär, Thomas Hampson – singen heute wie sie singen, weil Fischer-Dieskau sie geprägt hat. Persönlich oder indirekt. Entkommen kann man ihm nicht. Das ist vielleicht ein noch größeres Vermächtnis als die 400 Schallplatten und im Nachhinein seine größte Lebensleistung: Die künstlerischen Standards für den Liedgesang sind von ihm verhandelt und bis auf weiteres verankert.
Dietrich Fischer-Dieskau war im Nachkriegsdeutschland nicht nur der Liedsänger, er war auch Deutschlands friedlicher Kulturexport und sah sich selbst durchaus als eine Art Botschafter: "Ich war es nach dem Krieg ja insofern, als ich dauernd in Länder fuhr, die sehr deutschfeindlich mit Recht gesinnt waren, wo man auch mit Misstrauen begrüßt wurde. Das musste allmählich erst weggeschmolzen werden, und ich glaube, ich habe da ein bisschen was tun können."
Unvergessen ist sein Mitwirken an der Uraufführung von Benjamin Brittens "War Requiem" 1963 in der im Krieg fast völlig zerstörten und wieder aufgebauten Kathedrale von Coventry. Britten selbst wünschte sich neben seinem Lebensgefährten Pears und der Russin Galina Wischnewskaja explizit den Deutschen Fischer-Dieskau als Solisten. Nicht nur musikalisch ein denkwürdiges Erlebnis, sondern auch ein völkerverbindendes, historisches Ereignis.
Was man heute aus seinen Aufnahmen nur bedingt heraushören kann, woran sich aber alle erinnern, die ihn je live in einem Liederabend erlebt haben, ist, wie unglaublich lange und intensiv Fischer-Dieskau Spannung erzeugen und halten konnte. "Mein Ziel war es, das Publikum zur Kooperation zu zwingen" – so hat er sein Credo formuliert und dabei sich selbst und uns gleichermaßen gefordert und beschenkt.
Sendung: "Allegro" am 28. Mai ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK