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Teodor Currentzis im Porträt Manierist mit Substanz

Der Dirigent Teodor Currentzis polarisiert die Musikwelt derzeit wie kein Zweiter: Was als gesichert gelten kann: In der russischen Stadt Perm im Ural hat Currentzis sein Orchester MusicAeterna in langen Proben hundertprozentig auf sich eingeschworen. In der kommenden Saison wird er außerdem Chef des fusionierten SWR-Symphonieorchesters. Bei den Salzburger Festspielen war er letztes Jahr der ebenso umjubelte wie umstrittene Shooting Star. Dieses Jahr dirigiert er dort alle Beethoven-Symphonien.

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Er liebt die Provokation. Die einen sehen ihn als Messias der Klassikszene, die andern als enfant terrible. Er steckt sein Orchester in Mönchskutten, was seine Springerstiefel mit roten Schnürsenkeln umso cooler wirken lässt. Und er sagt Sätze wie diesen: "Ich dirigiere Tschaikowsky nicht anders, ich dirigiere ihn richtig." So viel Sendungsbewusstsein stößt teils auf unterwürfige Verehrung, teils auf Spott. Vielleicht, meint Currentzis, sei er einfach zu romantisch für den westlichen Lebensstil. Deshalb habe es ihn schon zum Studium aus seiner Heimat Griechenland nach Russland gezogen: "Nach Russland bin ich gegangen, weil ich auf der Suche nach einer alternativen Form der Arbeit war", erzählt der Dirigent. "Wenn Sie beispielsweise vor einem Orchester stehen, und über Ihre Liebe zu jemanden sprechen, werden Sie allgemeines Gelächter ernten. Ich habe also eine ideale Welt gesucht. Mein Ziel war es, eine Art musikalisches Kloster zu gründen, ein spirituelles Leben zu schaffen. Ich glaube, dass das die Menschen frei macht."

Wir spielen Kammermusik, trinken Wein zusammen, lesen Gedichte. Das ist wahres Glück!
Teodor Currentzis

Proben, tanzen, feiern

Perm, die östlichste Millionenstadt Europas, liegt im Uralgebirge. Wegen der Rüstungsbetriebe war es zu Sowjetzeiten eine verbotene Stadt. Noch immer dominiert sozialistisches Grau. Gerade deshalb gebe es hier ideale Bedingungen für sein "musikalisches Kloster", erzählt Currentzis. Keine Ablenkung – nur Musik. "In Perm ist ungefähr ein Viertel der Musiker ausländischer Herkunft. Sie leben dort und wollen als Künstler ihre Persönlichkeit entfalten. Wir können zum Beispiel acht Stunden am Tag proben. Danach führen spezielle Pädagogen den Musikern barocke Tänze vor. Wir tanzen also bis 12 Uhr nachts. Denn es ist sehr wichtig, die Schritte der Allemande zu kennen, bevor man sie spielt. Danach feiern wir bis um vier Uhr morgens. Spielen Kammermusik, trinken Wein zusammen, lesen Gedichte. Das ist wahres Glück!"

Starke Deutungen

Teodor Currentzis | Bildquelle: picture-alliance/dpa In Perm hat Currentzis auch seinen umstrittenen Zyklus der drei Da Ponte-Opern von Mozart eingespielt. Nicht alle werden dabei glücklich. Von Sängern hört man, dass der Meister selbstherrlich wie ein Guru tief in der Nacht eine anstrengende Phrase nochmal und nochmal und nochmal hören wolle – ohne Rücksicht darauf, dass das der Stimme schaden könnte. Ja, man kann sich über Currentzis' Ego-Show ärgern. Über seine rudernden Bewegungen beim Dirigieren, sein demonstratives Meditieren, bevor es losgeht. Dass es, anders als er großspurig behauptet, keine definitiv "richtige" Interpretation geben kann, ist ohnehin klar. Aber Currentzis‘ Deutungen sind stark. Etwa seine Einspielung von Tschaikowskys "Pathétique".

Bewundernswerte handwerkliche Perfektion

Wie immer bei ihm, ist diese Einspielung radikal subjektiv, auf der Grenze zum Überzeichneten – aber eben auch Takt für Takt fesselnd und handwerklich mit bewundernswerter Perfektion von seinen Musikern umgesetzt. Allein die Lautstärke-Kontraste! Offenbar hat der Toningenieur Currentzis‘ Klangvorstellung noch unterstrichen. Bei ihm klingt kein einziger Ton routiniert oder auch nur naturbelassen. Alles wird durchgestaltet, nachgesteuert, verschärft, krasser gemacht. Currentzis ist ein Manierist, aber im großen Stil. Bei Mozart kostet das allzu oft die Natürlichkeit. Aber besser als die gepflegte Langeweile der traditionell-durchschnittlichen Mozart-Deutungen der älteren Generation ist das allemal.

Risiko des Scheiterns

Wer Einzelmomente so grell beleuchtet, bringt Unerhörtes ans Licht, riskiert aber auch Verständlichkeit und Zusammenhang. Man kann das mögen, aber auch mit guten Gründen ablehnen. Nur eines kann man sicher nicht: Currentzis als Scharlatan abtun. Nicht immer gehen seine Konzepte auf. Aber er hat substantielle Dinge zu sagen. Seine Spleens sind verzeihlich, sein Guru-Gehabe weckt Misstrauen. Aber seine Interpretationen haben die Aufmerksamkeit, auf die sie derzeit treffen, allemal verdient.

Sendung: "Allegro" am 06. August 2018 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK