Es war einmal ein Studentenorchester, in dem syrische, israelische und palästinensische Jugendliche Musik machten. So beginnt die Geschichte des West-Eastern Divan Orchestra. Der Dirigent Daniel Barenboim und der Literaturwissenschaftler Edward Said waren die Anstifter dieser musikalischen Kommunikation. Über die Jahre wurde das Niveau des Orchesters immer professioneller und das Projekt immer größer. Dazu gehören die Barenboim-Said-Akademie und der Boulez-Saal, die im letzten Jahr in Berlin eröffnet wurden. Nun gibt es ein Buch, das diese Entwicklung von den Anfängen bis heute nachzeichnet.
Bildquelle: Henschel-Verlag
Der Buchtipp zum Anhören
Ich mag kein Ghetto für zeitgenössische Musik, kein Ghetto für Barockmusik, ich mag überhaupt keine Ghettos.
Daniel Barenboim mokiert sich nicht nur trotzköpfig über das, was er nicht mag. Er gehört auch nicht zur Spezies der ewig Lamentierenden. Vielmehr befreit sich Barenboim aus solchen gedanklichen Ghettos. Das gilt für die Zusammenstellung seiner Musikprogramme im Boulez-Saal in Berlin, wo eben nicht allein Zeitgenössisches oder Barock pur auf dem Plan steht. Das gilt auch für den komplexen Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern.
Gründete 1999 gemeinsam mit Edward Said das West-Eastern Divan Orchestra: Daniel Barenboim | Bildquelle: Silvia Lelli "Im Allgemeinen hatte ich Angst vor Muslimen. Ich dachte, alle wollten mich töten, also hatte ich vor allem Angst, was mit ihnen zu tun hatte!" So bringt eine Oboistin des West-Eastern Divan Orchestra die Gefühle der meisten Israelis auf den Punkt. Im Buch "Der Klang der Utopie" ist viel Raum für solche emotionalen Zitate der Musiker. Sie wechseln sich in einem ausgewogenen und doch treibenden Rhythmus ab mit aufschlussreichen Bilderstrecken und ergänzenden, erläuternden Essays.
Am Anfang aller Töne stand eine Utopie, besser noch: Ein Hirngespinst, das in etwa lautete: Wir bringen die Feinde an ein Pult. Barenboim findet im Literaturwissenschaftler Edward Said einen scharf denkenden und dabei ebenfalls visionären palästinensischen Partner.
Barenboim zusammen mit zusammen mit Akademie-Direktor Michael Naumann vor einem Modell der Barenboim-Said-Akademie in Berlin kurz vor Eröffnung | Bildquelle: picture-alliance/dpa Anhand vieler Fotos von Musikern während der Probe, beim Beraten, am Grenzzaun im Nahen Osten und mit einer Weltkarte lässt sich auch visuell gut nachvollziehen, wie rasant sich das Orchester entwickelt hat. Vom interkulturellen Musik-Workshop in Weimar im Jahr 1999 zum professionellen Ensemble, das Konzerte gibt – von Ecuador über Rabat, Salzburg, Berlin, Ramallah, bis nach Shanghai. Daniel Barenboim reichte das nicht. Er dachte weiter. Ein Ort musste her, der die Erkenntnisse aus dieser musikalischen Utopie "West-Eastern Divan Orchestra" auch anderen vermittelte.
Den Ort fand er in Berlin, für eine Akademie, in der studiert wird – und für einen Konzertsaal. Im denkmalgeschützten ehemaligen Kulissendepot der Staatsoper Unter den Linden wurden rund 2.200 Kubikmeter Beton und 700 Tonnen Stahl verbaut. Der Pierre-Boulez-Saal entstand nach einem Entwurf des renommierten Architekten Frank Gehry. Dank zahlreicher Fotos im Buch sind wir dabei, wenn aus dem schäbigen Lager ein warmer, wonniger Konzertsaal erwächst. Man erfährt, wann die Fledermäuse ausgelagert werden mussten und dass der Saal eine ungewöhnliche Form hat. "Er ist oval", erklärt Daniel Barenboim. Es gibt, soweit ich weiß, keinen anderen ovalen Saal auf der Welt."
Hier erlernen die Studierenden die Tonart des Humanismus.
Der Pierre-Boulez-Saal in Berlin | Bildquelle: © Roland Halbe Kein Schuhkarton also, kein Weinberg, kein Kreis. Und so steht dieses Oval symbolisch für ein zentrales Anliegen von Barenboim: 'raus aus den herkömmlichen Denkmustern. Das schließt bei ihm auch eine umfassende Bildung der Musiker ein, die sie in der angeschlossenen Barenboim-Said-Akademie erhalten. "Hier erlernen die Studierenden die Tonart des Humanismus", heißt es in dem Buch. "Dazu gehören: Geschichte, Philosophie, Literatur und politische Theorie." Technische Präzision beim Musizieren reicht nicht. Nur wer etwas in sich hat, kann auch etwas ausdrücken.
Nach der Lektüre des Buches hat man den Eindruck: Hier gelingt etwas Gutes. Trotz der Fülle an Bildern und Worten bleibt aber kein gesättigtes Gefühl zurück, kein Geschmack von Friede-Freude-Eierkuchen. Man kann "Die Utopie des Klanges" immer wieder zur Hand nehmen und über das Energiewunder Barenboim staunen. Im besten Fall färbt sogar etwas davon ab.
Daniel Barenboim, Michael Naumann:
"Der Klang der Utopie"
224 Seiten, kartoniert / broschiert
150 farbige und schwarzweiße Abbildungen
Henschel Verlag, Leipzig
Preis: 29,95 Euro
Sendung: "Piazza" am 27. Oktober 2018 ab 08:05 Uhr auf BR-KLASSIK