"So schreitet in dem engen Bretterhaus den ganzen Kreis der Schöpfung aus!" Was der Theaterdirektor in Goethes Faust fordert, versuchen bis heute alle, die am Theatergeschehen beteiligt sind. Nicht immer ist das Ergebnis voll und ganz überzeugend. Oder sind nur wir zu müde, zu unkonzentriert oder zu engstirnig? Vom besseren Verstehen dessen, was da oben auf den Bühnen stattfindet, handelt ein neues Buch mit dem schönen Titel "Der kleine Theaterversteher". Geschrieben hat es der frühere SZ-Kritiker C. Bernd Sucher.
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Der Buchtipp zum Nachhören!
Was haben schwule tanzende Cowboys in der Liebesgeschichte von Tatjana und Onegin in Tschaikowskys Oper "Eugen Onegin" verloren? Oder was ein verwesender Hase im "Parsifal" von Wagner oder Eimer voller Blut in Olivier Messiaens "Saint François"? Zeitgenössische Theater- und Operninszenierungen werfen Fragen auf, wollen zum Nachdenken anregen oder sogar aufregen, den Zuschauer herausfordern. Was freilich nicht immer auf Zustimmung stößt. C. Bernd Sucher, der an der Bayerischen Staatsoper viele Publikumsgespräche moderiert hat, weiß davon ein Lied zu singen. Ist das Opernpublikum also besonders konservativ? Sucher äußert sich dazu nicht, aber er konstatiert, dass der Opernbesucher es durchaus ein wenig schwerer hat gegenüber dem Schauspielbesucher, weil er auch noch der abstrakten Botschaft der Musik zu folgen hat. Doch eigentlich ist es gar nicht so schwer, heutige Opernregie zu verstehen, meint Sucher, man müsse nur "mit schaffender Lust die wahrgenommenen Eindrücke zur Synthese bringen."
Das klingt einfach, erfordert allerdings ein paar Vorübungen wie Offenheit und Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen. Die brächten nicht alle Zuschauer mit, sagt Sucher. Vor allem jene nicht, die nur ihre Erwartungen erfüllt sehen wollen: "Der Rezipient soll nicht mit Vorurteilen an eine Aufführung herangehen, sondern sich auf das einlassen, was ihm angeboten wird, und sich fragen, ob diese Interpretation eine mögliche oder unmögliche ist."
C. Bernd Sucher | Bildquelle: BR Man mache es sich zu einfach, wenn man eine Regiearbeit ablehne, nur weil sie nicht ins eigene Konzept passt, so Sucher. Der Zuschauer sei ein aktiver Mitgestalter des theatralen Prozesses, kein passiver Konsument. Moderne Theaterregie mache "Wahrnehmungsangebote", die man für sich nutzbar machen müsse. Deshalb will Suchers "Theaterversteher" den Zuschauer in seinem reflektierenden Vermögen stärken und sensibilisieren, ganz nach dem Goethe‘schen Motto: "Man sieht nur, was man weiß". Zentral in Suchers Buch ist das Thema "Wahrnehmung". Sehen und Hören müssten trainiert werden, allein die Lichtwechsel in einer Theateraufführung zu registrieren sei bereits von Bedeutung.
Jeder Lichteinsatz ist bei einem intelligenten Inszenierungskollektiv eine Interpretation und eine Haltung.
Viel Aufmerksamkeit widmet der Autor dem sogenannten postdramatischen Theater, das sich oft von seiner Vorlage lossagt und mit collage-ähnlicher Simultaneität für manche eine besondere Herausforderung darstellt. Hier erweist der erfahrene Theaterbeobachter dem interessierten Laien wertvolle Hilfestellungen im Begreifen unterschiedlicher Regiestile. "Der Zuschauer des postmodernen Theaters muss nicht sofort alles verstehen", sagt Sucher. "Er sollte nicht verzweifeln, wenn nicht sofort eine Instant-Verarbeitung möglich ist, sondern mit gleichschwebender Aufmerksamkeit wahrnehmen, speichern."
Manches in Suchers Buch, das klein daher kommt, aber durchaus Großes verhandelt, wirkt ein wenig prätentiös. Etwa die Forderung, Dramentexte doch bitte in der Originalsprache zu lesen. Hervorragend aber sind die vielen anschaulichen Inszenierungsbeispiele und die Beschreibungen der an einer Aufführung beteiligten Prozesse und Berufe. So ist das Buch auch eine kleine Theater- und Aufführungsgeschichte, für Schauspiel- wie für Opernbesucher gleichermaßen. Vor allem aber ist der "Kleine Theaterversteher" durch die immer spürbare Begeisterung des Autors ein Theaterverführer.
"Wie es Euch gefällt"
Der kleine Theaterversteher
Alles, was auf, vor und hinter der Bühne geschieht
von C. Bernd Sucher
272 Seiten, mit 19 Abbildungen
Paperback
Preis: € 16,95
erschienen im Verlag C. H. Beck