Als vor fast 20 Jahren der erste Teil von Marcel Reich-Ranickis "Kanon der deutschsprachigen Literatur" herauskam, umfassten allein die Romane 20 Bände. Und der Literaturfreund auf der Suche nach Orientierung wusste: "Das schaff‘ ich nie!" Joachim Kaiser hat es in den 90ern mit "100 Meisterwerken der Musik" versucht – da konnte man sich wenigstens einzelne Werke herauspicken. Jetzt hat Joachim Mischke, Journalist und Musikwissenschaftler, einen "Klassik-Kanon" veröffentlicht. Mit gerade mal 280 Seiten. Lesenswert, findet BR-KLASSIK-Kritiker Michael Atzinger.
Bildquelle: Hoffmann und Campe
"Das soll tatsächlich alles sein?! So unschwer ist das, so unbeschwert? Der Anblick von Mozart-Noten kann schockieren, weil dort nichts zu finden ist, was unnötig, albern oder gar eitel wäre." Das ist doch mal ein Einstieg zu einem Komponisten, über den scheinbar schon alles gesagt ist: die Aufforderung, in die Partituren seiner Werke zu schauen.
Für Autor Joachim Mischke lässt György Ligetis Vorliebe für wilde Pullover-Muster tief blicken. | Bildquelle: picture-alliance/dpa Fünf Seiten gibt Joachim Mischke sich und uns für jeden seiner "44 Komponisten, von denen man gehört haben muss". Mozart kriegt nicht mehr als Luigi Nono, Berlioz nicht weniger als Schubert. Und die ersten Sätze der Portraits sind, nun ja, bisweilen genial. Zu György Ligeti heißt es: "Wer wissen will, wie hochtourig sein Komponistenhirn funktionierte und wie bunt flirrend seine Vorstellungen von Musik waren, muss sich Fotos ansehen, auf denen er einen seiner geliebten wild gemusterten Pullover trägt. So war er." Über Giacomo Puccini ist zu lesen: "Vorhang hoch und Taschentücher raus! Auf geheimnisvolle Art und Weise sind in seinen vier populärsten Opern an etlichen Stellen kleine, unsichtbare Schleusenhebel hineinkomponiert. … Diese Hebel müssen pünktlich zu den großen Arien im sicheren Dunkel des Zuschauerraums umgelegt werden."
Die Porträts (alle mit Kategorien wie "Einstiegsdroge" oder "Für Fortgeschrittene" garniert) sind sprachlich brillant reduzierte Biografien – eingedampft nicht aufs Nötigste, sondern aufs Anschaulichste. Originell, mit Witz, immer nachvollziehbar. Und sie bleiben nie in der Vergangenheit hängen. Sie schaffen Verbindungen, machen Musik beim Lesen hörbar: "Als John Williams 1975 die zündende Idee für das O-Gott-da-ist-das-Viech-Motiv in Spielbergs 'Weißem Hai' fehlte, könnte er sich, rein zufällig an Szenen aus dem 'Sacre du printemps' von Strawinsky erinnert haben."
Autor und Kulturredakteurs des Hamburger Abendblatts: Joachim Mischke. | Bildquelle: Daniel Reinhardt/dpa Mischkes Komponistenauswahl ist – wie er auch im Vorwort schreibt – nicht erschöpfend. Natürlich kann man sagen, da fehlen Dvořák und Smetana, Rossini und Prokofjew. Und die Damen-Fraktion ist mit Clara Schumann und Fanny Hensel zwar hochwertig, aber dünn besetzt. Aber das, was man auf diesen 280 Seiten zu lesen bekommt, macht großes Vergnügen. Seinen Anspruch, es gehe in seinem Buch um "Genies und gute Geschichten", löst Mischke spielend ein. Er will Appetit wecken, neugierig machen: "Für Werkanalysen und Motivstammbäume wenden Sie sich bitte an den Musikwissenschaftler Ihres Vertrauens."
Joachim Mischke, Lucia Götz (Illustrator)
Der Klassik-Kanon
44 Komponisten, von denen man gehört haben muss
Hoffmann und Campe - Sachbuch
288 Seiten
Preis: 25,00 Euro
Sendung: "Allegro" am 19. November 2020 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (0)