"Jeder Eintrag lässt sich verstehen wie die Spitze eines Eisbergs, der darauf wartet, neugierig und tatkräftig erobert zu werden." Das sagt der Bariton Thomas Hampson, eine Autorität unter den Sängern der Klassikwelt. Das Statement findet sich im Geleitwort zu einem neuen, aufsehenerregenden Nachschlagewerk: "Lexikon der Gesangsstimme". Der stattliche Band knüpft im Laaber-Verlagskatalog an ähnliche Publikationen zu einzelnen Instrumenten an. Die Verantwortung als Herausgeber teilen sich diesmal vier Fachleute: Ann-Christine Mecke und Martin Pfleiderer, Bernhard Richter und Thomas Seedorf.
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Der Buchtipp zum Anhören
Welches ist das älteste Musikinstrument der Welt? Weder die Flöte noch die Violine! Die menschliche Stimme wurde zu Gesangszwecken schon zu Zeiten eingesetzt, als noch niemand auf die Idee kam, Holz oder andere geeignete Materialien so zu verarbeiten, dass sich mit dem Resultat Töne erzeugen lassen.
"Geschichte - Wissenschaftliche Grundlagen - Gesangstechniken - Interpreten": Vier Untertitel signalisieren den enzyklopädischen Ehrgeiz des 800-seitigen Bandes. 800 Stichwörter laden zum Schmökern ein: "Abbellimenti" ist das erste, "Zwischenrippenmuskeln" das letzte. 58 Autorinnen und Autoren, sehr verschiedenen Fakultäten zugehörig, erörtern das Thema Gesangsstimme und seine Facetten interdisziplinär, mit durchgehend akademischem Anspruch. Sie gehen epochenübergreifend auf die verschiedensten stilistischen Phänomene ein.
Bildquelle: picture-alliance/dpa "Gesangsstil, welcher durch immer wiederkehrende schnelle Tonsprünge zwischen verschiedenen Registern geprägt ist, wobei die Registerwechsel in charakteristischer Weise hörbar sind", heißt es in einer Definition. Was damit wohl gemeint ist? Richtig, vom Jodeln ist hier die Rede! Der Artikel gliedert sich in Anmerkungen zu Kennzeichen, Verbreitung und Herkunft, physiologischen Besonderheiten. Eine Abbildung zeigt den Vergleich der Frequenzgenauigkeit von Jodlern, klassisch trainierten Sängern und nicht-trainierten Stimmen. Allgemein nimmt kommerzielle Unterhaltungsmusik überraschend viel Raum ein: Jazz und Pop, Rock und Folklore. Mit welcher Genauigkeit beispielsweise die Personalie Elvis Presley beschrieben wird, sieht man an Formulierungen wieder folgenden: "Presley vermag sowohl mit der heiseren, ekstatischen Stimme eines Rhythm & Blues-Sängers zu singen als auch mit weicher, hoher Stimme zu 'croonen'; sein eher unregelmäßiges Vibrato geht mitunter in ein Zittern über, das als Zeichen innerer Erregung wahrgenommen werden kann."
Auch und gerade Opernliebhaber sollten sich durch diese Buch-Neuheit angesprochen fühlen.
Die Befürchtung, das Lexikon müsse aufgrund der Unüberschaubarkeit des Ressorts Gesang zwangsläufig aus Platzgründen an der Oberfläche bleiben, wird immer wieder angenehm entkräftet. So findet sich etwa zum menschlichen Kehlkopf eine Ansammlung von acht Artikeln: "Kehlkopf - Kehlkopfeingang - Kehlkopfgelenke - Kehlkopfknorpel - Kehlkopfmuskeln - Kehlkopfnerven - Kehlkopfspiegelung - Kehlkopftiefstellung".
Maria Callas | Bildquelle: picture-alliance/dpa Auch und gerade Opernliebhaber sollten sich durch diese Buch-Neuheit angesprochen fühlen. Stimmfächer zum Beispiel werden ausführlich erläutert: Nicht dem Komponisten Giuseppe Verdi wird ein Artikel gewidmet, wohl aber dem Verdi-Bariton; bei den singenden Damen allein zehn verschiedenen Sopranfächern. Und was die in solchen Fällen stets angreifbare Auswahl der Sängerinnen und Sänger betrifft, verwundert zwar eine Entscheidung wie die für Anneliese Rothenberger, auch die gegen Renata Tebaldi. Bei der Primadonna assoluta des 20.Jahrhunderts aber, Maria Callas, freut einen die Präzision der historischen Einordnung, die Aufrichtigkeit im Detail: "Hinter der Medienfigur trat die Künstlerin Maria Callas in der öffentlichen Wahrnehmung seit Ende der 1950er Jahre zunehmend zurück, nicht zuletzt aufgrund von stimmlichen Problemen, die immer deutlicher wurden und sich in Einschränkungen in der hohen Lage, einem Registerbruch zwischen Brust- und Mittelstimme und einem übergroßen Vibrato zeigten. Obwohl Callas über drei Jahrzehnte in der Öffentlichkeit sang, umfasste ihre Karriere im Kern nur wenige Jahre, in denen sie aber ein höchst anspruchsvolles und vielseitiges Repertoire in Maßstäbe setzender Weise beherrschte."
Auch wenn Amateure, anders als Profis, vor der geballten Fachterminologie dieses Nachschlagewerks möglicherweise kapitulieren: Schon bald werden sich alle, die beruflich mit Gesang zu tun haben, fragen, wie sie eigentlich all die Jahre ohne dieses Lexikon klar kommen konnten.
Lexikon der Gesangsstimme
Hg. Ann-Christine Mecke und Martin Pfleiderer, Bernhard Richter und Thomas Seedorf
Geleitwort Thomas Hampson
800 Seiten mit 174, z.T. farbigen Abbildungen
Hardcover
Preis: € 98,00
erschienen im Laaber-Verlag