Peter Tschaikowsky war ein großer Briefeschreiber – aber ein vorsichtiger: Dass er sich immer wieder in Männer verliebte, musste seine Familie ja nicht unbedingt wissen. Nicht ganz so zugeknöpft hat er sich gegenüber seiner Gönnerin Nadeshda von Meck gegeben – und sie hat fleißig zurückgeschrieben. Es sind Herzensergüsse über große Kunst und große Geldnot, über wertvolle Freundschaft und unglückliche Liebe – und über die Katastrophe einer Heirat. Jetzt erscheint im Schott Verlag der erste Band der außerhalb Russlands ersten Gesamtausgabe dieses umfangreichen Briefwechsels.
Bildquelle: Schott Music, Mainz
"O mein Gott, ich kann Ihnen nicht wiedergeben, was ich empfinde, wenn ich Ihre Werke höre, ich bin bereit, Ihnen meine Seele hinzugeben, Sie werden zum Gott für mich ...", heißt es in einem Brief aus dem September 1878: Die Verfasserin ist 47 Jahre alt und Mutter von 18 Kindern, von denen sechs gestorben sind. Sie ist die Witwe des baltisch-deutschen Ingenieurs Karl von Meck und Chefin sowie Großaktionärin eines von ihrem Ehemann aufgebauten Eisenbahnunternehmens, außerdem Eigentümerin eines großen Landguts mit Zuckerfabrik. Der Adressat ist der 38-jährige Komponist Peter Tschaikowsky. Knapp zwei Jahre zuvor hat sie ihm zum ersten Mal geschrieben – auch um ihm zu sagen, "dass es sich mit Ihrer Musik leichter und angenehmer lebt."
Ich bin bereit, Ihnen meine Seele hinzugeben, Sie werden zum Gott für mich.
Peter Tschaikowsky | Bildquelle: picture alliance/akg-images Die vermögende Musikliebhaberin, die auch wohl sehr ordentlich Klavier spielt, weiß durch den Musiklehrer ihrer Kinder, dass Tschaikowsky in finanziellen Schwierigkeiten steckt. Und so erteilt sie ihm Kompositions- und Bearbeitungsaufträge, die sie ihm großzügig honoriert. Eine außergewöhnliche Brieffreundschaft nimmt ihren Lauf. Über das Leben als Komponist, über politische Ereignisse und gesellschaftliche Skandale – und über ihre "gemeinsame Krankheit", eine besondere Art der Misanthropie: "Die Menschen, die an dieser Krankheit leiden, fürchten nicht den Schaden, der ihnen aus den Intrigen des Nächsten erwachsen kann, sondern die Enttäuschung, die Sehnsucht nach dem Ideal, die sich nach jeder Annäherung einstellt." So äußert sich Peter Tschaikowsky über dieses "Syndrom".
Dieses Buch wird lieben, wer …
... schon immer wusste, dass hinter erfolgreichen Männern starke Frauen stehen.
Dieses Buch liest man am besten …
... an kalten Winterabenden im Wohnzimmer, im Idealfall vor dem prasselnden offenen Kamin. Wein und russische Piroschki bitte in Reichweite stellen!
Dieses Buch ist wie geschaffen für …
... einen Vorleseabend zu zweit.
Nadeshda von Meck | Bildquelle: picture alliance / Photo12 / Ann Ronan Picture Library 14 Jahre wird dieser Briefwechsel dauern – und immer mehr wird Nadeshda von Meck in Tschaikowskys Leben eintauchen. Und er wird immer mehr von sich preisgeben. Die beiden werden sich nie persönlich begegnen – auch nicht, wenn sie sich mal beide am selben Ort aufhalten. "Es gab eine Zeit, in der ich sehr wünschte, mit Ihnen bekannt zu werden, jetzt aber fürchte ich die Bekanntschaft um so mehr, je mehr Sie mich bezaubern." So bringt es Nadeshda von Meck auf den Punkt. Dieser wissenschaftlich so präzis kommentierte Briefwechsel ist so viel mehr als die Korrespondenz zweier verwandter Seelen. Er ist ein immens spannendes Zeitzeugnis – und eine unschätzbare, zum ersten Mal auf deutsch zugängliche Primärquelle für alle Tschaikowsky-Fans.
Man sollte es sich mit diesen vielen hundert Seiten zu zweit zuhause bequem machen, an einem dieser Abende, an denen man eh nicht raus kann. Eine Flasche Wein wäre nicht schlecht und ein bisschen russisches Gebäck, auf CD läuft die große Briefszene der Tatjana aus "Eugen Onegin" (mit Renée Fleming) – und dann könnte man einander ein paar dieser Briefe vorlesen:
"Soeben, als ich von einem abendlichen Spaziergang zurückkehrte, dachte ich an Sie und eilte nach Hause, um mich hinzusetzen und Ihnen zu schreiben." (Nadeshda von Meck)
"Meine teure Freundin, der erste Satz des Violinkonzerts ist schon fertig. Morgen beginne ich mit dem zweiten. Seit dem Tage, als die günstige Stimmung bei mir eintrat, verlässt sie mich nicht." (Peter Tschaikowsky)
Schon bald verliert man sich in dieser Welt, die einem mit jedem Brief ein wenig vertrauter und lieber wird. Die von einem Umgang miteinander erzählt, der selten geworden ist. Behutsam, achtsam, empathisch – mysteriös und durchaus immer wieder lösungsorientiert. Vielleicht sollte man sich wieder mal Briefpapier kaufen …
Thomas Kohlhase (Hrsg.)
Peter Tschaikowsky/Nadeshda von Meck: Briefwechsel 1876 – 90 in drei Bänden
Band 1: Briefe 1876 – 1878
SCHOTT MUSIC Mainz, 2020
752 Seiten, Hardcover
Preis: 98,00 Euro
Sendung: "Allegro" am 18. Dezember 2020 ab 6:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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