Er ist eigentlich Naturwissenschaftler und hat trotzdem über Frédéric Chopin geschrieben. Und dazu auch noch über ein sehr spezielles Thema: Über die Rolle von Chopins Musik während der Zeit des Nationalsozialismus. Für den Titel dieses lesenswerten Buches wählte Reinhard Piechocki das Schumann-Zitat "Unter Blumen eingesenkte Kanonen" - mit dem Untertitel "Chopins Musik in dunkler Zeit".
Bildquelle: Staccato-Verlag
Der Buchtipp zum Anhören
In dieser dunklen Zeit - ab 1934 - wünscht sich Adolf Hitler eine Versöhnung mit Polen. Nicht ganz uneigennützig: Wäre Polen auf der Seite der Deutschen, bedeutete dies eine außenpolitische Stärkung - und vielleicht auch einen Juniorpartner für den angestrebten Krieg gegen die Sowjetunion. Propagandaminister Goebbels unterzeichnet ein deutsch-polnisches Medienabkommen. Danach soll "eine freundschaftliche Atmosphäre geschaffen und die Aussöhnung vorangetrieben werden". Musikalisch muss dafür Frédéric Chopin herhalten: Seine Werke werden in den deutschen Rundfunksendern rauf und runter geklimpert. In den deutschen Opernhäusern tanzt man Ballette zu Chopin, Deutschland unterstützt Polen finanziell beim Erwerb kostbarer Chopin-Handschriften.
Akribisch und mit Quellenangaben listet Autor Reinhard Piechocki diese "Chopin-Strategien" auf. Die Polen aber lassen sich von solchen einschmeichelnden Spielchen mit ihrem Nationalhelden nicht einlullen. Goebbels kocht vor Wut: "Die Polacken sind und bleiben unsere natürlichen Feinde." Mit der Garantieerklärung Großbritanniens an Polen kippt die Stimmung. Und mit dem Einmarsch in Polen 1939 geht es Chopin an den Kragen. Bereits am 14. November untersagt Goebbels die Aufführung von Komponisten aus feindlichen Ländern, wie Polen.
Frédéric Chopin. Gemälde von Eugene Delacroix (1838) | Bildquelle: picture-alliance/dpa Allerdings rudert Goebbels bald wieder zurück. Erstens liebt er selbst Chopin und spielt dessen Walzer äußerst stümperhaft am Klavier. Überhaupt lieben die Deutschen Chopins Musik, ein Verbot könnte zu Unmut in der Bevölkerung führen. Zweitens könnte dieser Chopin doch irgendwie ein Deutscher sein, und der Musikwissenschaftler Ernst Krienitz erklärt kurzerhand: "Ohne der Deutschen Romantik und der Deutschen Pianisten wäre Chopin nie so beliebt." Selbst die Ahnenforschung gehorcht der Deutschtümelei unertänigst: Es lohne sich nachzuprüfen, ob Chopin nicht aus der Familie des deutschen Generals "Schopping" stamme, heißt es dort.
Alles Unsinn. Chopin ist Pole. Am 31. Mai 1940 sprengen die Deutschen das Warschauer Chopin-Denkmal. "Die Sprengung war der Auftakt einer menschenverachtenden Strategie, die kulturelle Identität der Polen brechen zu wollen", schreibt Reinhard Piechocki. "Gleichzeitig versuchten die Deutschen, alle in Museen befindlichen Kopien des Denkmals zu zerstören. Allerdings schaffte ein Angestellter des Nationalmuseums in Posen eine Kopie des Kopfes im Keller zu verstecken."
Immer wieder innehalten muss man beim Lesen dieses Buches. "Chopins Musik in dunkler Zeit" ist keine Lektüre, die man gespannt verschlingt. Eher eine, die einen anspannt und schockiert. Sicherlich, über die perfiden Propagandamethoden der Nationalsozialisten ist viel geschrieben worden, aber mit welcher Raffinesse und zugleich Sensibilität die Musik von Chopin benutzt wurde, um zu zermürben, ins Herz zu treffen, Hass zu schüren, das trägt Autor Piechocki auf einmalige Weise zusammen: Auf 290 Seiten gibt er in sechs Kapiteln einen historischen Abriss und veranschaulicht die Rolle der Musik von Chopin bis 1945 anhand von zutiefst traurigen Einzelschicksalen jüdischer Musikliebhaber und Musiker. So schildert Piechocki auch die ersten Treffen von Marcel Reich-Ranicki und Tosia Langnas im Warschauer Ghetto. Chopins Musik wird zur seelischen Stütze, obwohl oder auch weil die Nazis seine Musik im Ghetto verboten hatten. "Er pfiff unentwegt Chopin-Walzer", heißt es über den Zeichenlehrer von Ranickis späterer Frau Tosia.
Am schockierendsten an diesem Buch sind die Beschreibungen der perversen Persönlichkeiten mancher Nazis. Brutal, menschenverachtend, hasserfüllt, brachial. "Hauptsturmführer Amon Göth tauchte im Lager auf, mit Tiroler Hut, weißen Handschuhen und Schal, auf der Suche nach einem neuen Opfer", schreibt Piechocki über den Kommandanten des Konzentrationslagers Płaszów bei Krakau. "Jeder im Lager wusste, dass er am liebsten am Morgen mit seinem Gewehr vom Balkon Häftlinge erschoss, als sei er auf Hasenjagd." Und dann, am Abend, schmelzen die Verbrecher wie Göth dahin, wenn eine Jüdin am Klavier Chopin spielt. Am 9. Dezember 1943 wird die Pianistin Natalia Karp auf Göths persönliche Anweisung gerettet, als sie für ihn ein Chopin'sches Nocturne interpretiert: "Plötzlich sagte er in die Runde: Sie soll leben", berichtet Piechocki.
"Chopins Musik in dunkler Zeit" ist ein lesenswertes Buch, geradeheraus geschrieben, ohne musikwissenschaftliche Eskapaden. Historisch gehalten, Und wie so häufig, wenn man sich mit dem Nationalsozialismus beschäftigt, bleibt man auch hier als Leser ratlos zurück ob der Rätselhaftigkeit, der Zwiegespaltenheit der Deutschen - zu jener Zeit.
Chopins Musik in dunkler Zeit (1933-1945)
von Reinhard Piechocki
294 Seiten / Broschur
Preis: € 29,00
erschienen im Staccato Verlag, Düsseldorf, April 2017
Sendungsthema aus "Allegro" am 29. Juni 2017, 06.05 Uhr auf BR-KLASSIK