Über keinen anderen Musiker wurde so viel geschrieben wie über Richard Wagner, und kein anderer Musiker hat selbst so viel geschrieben wie Wagner. Wurde Wagners Werk für die Zwecke des Nationalsozialismus "nur" benutzt, oder waren seine Kompositionen und Schriften mitverantwortlich für die Entwicklung der rassistisch-nationalistischen Ideologie? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der erste Band zur neuen Reihe "Diskurs Bayreuth", der von Katharina Wagner parallel zu den Bayreuther Festspielen ins Leben gerufen wurde.
Bildquelle: Bärenreiter Verlag
Der Buchtipp zum Anhören
Die Werke Richard Wagners bildeten bekanntlich stets die Begleitmusik für das tausendjährige Reich Adolf Hitlers. Noch im Bunker in Berlin hatte Hitler Partituren Wagners bei sich, und die Berliner Philharmoniker intonierten bei ihrem sogenannten Abschiedskonzert am 12. April 1945 den Trauermarsch aus der "Götterdämmerung". Die Wirkungsgeschichte Wagners ist Teil der Werkgeschichte. Das stellte schon Thomas Mann fest. Dessen Auseinandersetzung mit dem Bayreuther Meister und den unseligen Geistern, die er auf den Plan rief, ist ein wichtiger Referenzpunkt in dem neuen Buch über Wagner und die Folgen.
"Thomas Mann hat die Kohabitation zwischen Haus Wahnfried und Hitler früh und heftig kritisiert, ja angewidert kommentiert. Hitlers Besuch in Haus Wahnfried im Oktober 1923, seine durch Chamberlain und Winifred Wagner vollzogene Kür zum politischen Heilsbringer und neuen Parsifal, schließlich die endgültige Politisierung Bayreuths durch Hitlers Teilnahme an den Festspielen 1925 veranlassten Thomas Mann zu einer deutlichen Diagnose. Er sprach von den Restaurantionsversuchen Bayreuths und davon, dass Wagner zum Schutzherrn einer höhlenbärenmäßigen Deutschtümelei geworden sei" - so schreibt Irmela von der Lühe in ihrem Aufsatz über Thomas Mann und Richard Wagner.
Um es gleich vorwegzunehmen: Neues bietet die Aufsatzsammlung, die Texte der von Katharina Wagner initiierten Bayreuther Diskurse von 2017 zusammenfasst, nicht wirklich - trotz illustrer Namen wie Elisabeth Bronfen oder Mitchel Ash. Dafür bietet sie reichlich Material zu verschiedenen Aspekten des Themas für weitere Diskurse und Forschungen. Belebend für die Lektüre ist die Mischung aus Aufsätzen und Gesprächen, wenngleich in beiden Formen oft ein etwas anstrengender Akademismus zelebriert wird.
Barrie Koskys furiose Bayreuther "Meistersinger"-Inszenierung, die Wagners Antisemitismus und dessen Nachwirkungen bis zum Nationalsozialismus assoziativ auf die Bühne bringt, wird auch von den Wagnerforschern als interessante szenische Stellungnahme zum Themenkomplex gelobt. Wobei Micha Brumlik bemerkenswerterweise klarstellt, dass der Begriff der Usurpation des Werks Wagners durch die Nazis durchaus eine differenzierte Betrachtung erfordert.
Adolf Hitler ist ein ganz durchschnittlicher, normaler Wagnerianer gewesen, der aufs Äußerste darauf geachtet hat, dass hier politisch nichts usurpiert wird, sondern dass es gleichsam für sich selbst gesprochen hat.
Tatsächlich hat Hitler Wagner in Reden nicht oder kaum zitiert oder benutzt, was auch schon in früheren Forschungen bemerkt worden ist. Wie sich Wagners Antisemitismus in seinem Werk bemerkbar macht und ob - wie Kosky es darstellt – zum Beispiel die Figur des Beckmesser eine Judenkarikatur ist, darüber darf unter den Wagnerforschern auch 2018 noch immer gestritten werden.
Interessant ist auch, wie nach Kriegsende versucht wurde, Wagners Werk in Deutschland, aber auch international vom Dunst des Nazitums zu befreien. Dörte Schmidt liefert mit ihrem Aufsatz einen der wichtigsten Beiträge des informativen, aber auch etwas disparaten Buchs: "Galt es doch an der Musik wie an kaum einer anderen Kunst zu prüfen, ob und wie die Kultur den Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus überstanden haben könnte. Wagner wird dafür gleichsam zum Lackmustest, denn wenn die Kultur überlebt haben sollte, dann musste sich dies gerade auch an den potenziell problematischen Gestalten erweisen."
Katharina Wagner, Marie Luise Maintz, Holger von Berg
Sündenfall der Künste? – Richard Wagner, der Nationalsozialismus und die Folgen
Diskurs Bayreuth 1
220 Seiten, gebunden
Bärenreiter Verlag
Preis: 38,95 Euro
Sendung: "Allegro" am 7. September 2018 ab 06:05 Uhr auf BR-KLASSIK