Die Wiener Philharmoniker sind in vielerlei Hinsicht ein besonderes Orchester. Nicht nur, weil bei ihrem traditionellen Neujahrskonzert an jedem 1. Januar rund 50 Millionen Fernsehzuschauer in über 90 Ländern zuschauen. Auch die Geschichte dieses Klangkörpers verzeichnet herausragende musikgeschichtliche Höhepunkte. Zum 175. Geburtstag der Philharmoniker hat der französische Musikwissenschaftler Christian Merlin jetzt ein zweibändiges Werk herausgebracht.
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Der Buchtipp zum Anhören
Nahezu unglaublich, aber wahr: Der Gründer der Wiener Philharmoniker war ein Preuße. 1841 war der Dirigent und spätere Komponist der "Lustigen Weiber von Windsor" Otto Nicolai zum Hofopernkapellmeister in Wien ernannt worden. Der aus Königsberg stammende Dirigent und Komponist musste erstaunt feststellen, dass es in Wien außer dem Opernorchester kein professionelles Symphonieorchester gab. Und das in der Stadt Mozarts und Beethovens. So kam er auf die Idee, aus den Musikern des Opernorchesters ein Konzertorchester zu formen - die Geburtsstunde der Wiener Philharmoniker.
Bereits in der ersten Saison kam es zu Streitereien, die sich durch die ganze Geschichte des Orchesters zogen.
Beim ersten Konzert am 28. März 1842 hatten die Wiener Philharmoniker 64 Mitglieder, heute sind es 148. Schon damals verständigten sich die Musiker auf ein demokratisch gewähltes Komitee, das die Belange des Orchesters in allen Entscheidungen vertritt. Eine Praxis, die bis heute besteht, mit allen Vor- und Nachteilen, wie Merlin berichtet: "Bereits in der ersten Saison kam es zu Streitereien, die sich durch die ganze Geschichte des Orchesters zogen, darunter der Konflikt zwischen den Vorrechten des Dirigenten und den Unabhängigkeitsbestrebungen der Musiker."
Schließlich entschlossen sich die Philharmoniker 1933 dazu, keinen Chefdirigenten mehr für ihre Abonnementkonzerte zu ernennen und stattdessen mit wechselnden Gastdirigenten zu arbeiten. Christian Merlin kennt alle geschichtlichen Details der 175-jährigen Geschichte der Wiener Philharmoniker - schließlich hat er an der Sorbonne in Paris zu dem Thema eine Habilitationsschrift eingereicht. Und diese bietet er nun gut lesbar und unterhaltsam dem interessierten Leser dar.
Neujahrskonzert mit den Wiener Philharmonikern | Bildquelle: picture-alliance/dpa Am 15. Oktober 1897 wurde Gustav Mahler Direktor der Wiener Hofoper. Mahler veränderte mit seinem geradezu besessenen Perfektionismus und seinem Reformeifer die Hofoper von Grund auf, machte sie zur führenden Opernbühne im damaligen Europa. Wie bei kaum einen anderen Ensemble wurden Neumitglieder bei den Wiener Philharmonikern bis zum Ende des 20. Jahrhunderts hauptsächlich aus den Reihen der Schüler der Mitglieder oder sogar aus deren Familien rekrutiert. "Wenn man einen Blick auf den Klangkörper von 1974 wirft, ist das Bemühen um Homogenität weiterhin unübersehbar", schreibt Merlin. "70% der Geiger waren von einem Philharmoniker unterrichtet worden."
Die Zeit des Nationalsozialismus ist das dunkelste Kapitel in der Geschichte der Wiener Philharmoniker und wurde vom Orchester erst sehr spät aufgearbeitet. Neun Musiker konnten ins Exil gehen, fünf wurden Opfer des Holocausts. Nach den Entnazifizierungsverfahren von Musikern und Dirigenten war das Konzertleben geprägt von den großen Antipoden Furtwängler und Karajan, aber auch von Karl Böhm und Hans Knappertsbusch. Später übernahmen junge Dirigier-Talente wie Zubin Mehta, Claudio Abbado oder Lorin Maazel das Ruder. Und natürlich spielte Leonard Bernstein eine bedeutende Rolle, mit dem die Wiener Philharmoniker ein sehr enges Verhältnis verband und der ihnen das Werk Gustav Mahlers erneut näherbrachte, von dem sie sich als Folge der NS-Zeit entfernt hatten.
Der Übergang ins neue Jahrtausend war geprägt von einer zunehmenden Internationalisierung des Orchesters: 22 Nationalitäten zählten die Philharmoniker 2016. Erst 1997 öffnete sich das Orchester für weibliche Mitglieder, die man lange Zeit ausgegrenzt hatte. Doch was ist nun eigentlich das Besondere am Klang der Wiener Philharmoniker? Christian Merlin geht einer genauen Festlegung aus dem Weg. Am Ende seiner Chronik dieser außergewöhnlichen kulturellen Institution Namens Wiener Philharmoniker überrascht er dann allerdings mit einer unerwartet flapsigen Schlussbemerkung: "Die Wiener Philharmoniker sind kein 'lauwarmes' Orchester. Sie können entweder schlampig oder atemberaubend schön und leidenschaftlich, doch nie gleichgültig oder mittelmäßig spielen."
Christian Merlin:
Die Wiener Philharmoniker
Das Orchester und seine Geschichte von 1842 bis heute
Aus dem Französischen von Uta Szyszkowitz und Michaela Spath
2 Bände, 640 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen
Preis: € 148,00
erschienen im Amalthea Verlag