Andris Nelsons hat eine steile Karriere gemacht. Der 42-jährige Lette ist Chef bei zwei Spitzenorchestern: dem Leipziger Gewandhaus und dem Boston Symphony. Und er hat einen Exklusivvertrag beim Label Deutsche Grammophon. Letztes Jahr dufte er mit den Wiener Philharmonikern alle Beethoven-Symphonien einspielen – eine große Ehre. Seit einigen Jahren legt er Schritt für Schritt mit seinem Gewandhausorchester einen Bruckner-Zyklus vor. Gerade ist eine Box mit der Zweiten und der Achten Symphonie von Bruckner erschienen.
Bildquelle: Deutsche Grammophon
Der CD-Tipp zum Anhören
Keiner kann alles. Mit seinem Beethoven hat Nelsons enttäuscht. Behäbig, saturiert und weichgezeichnet klang das über weite Strecken. Sein Bruckner dagegen ist absolut hörenswert. Und wie das so ist – was beim einen Komponisten als Schwäche spürbar wird, erweist sich beim andern als Stärke. Nelsons ist ein Romantiker durch und durch. Einer, der den vollen, saftigen Klang liebt, der in satten, dunklen Farben schwelgt. Bei Beethoven, der Drive, Kontur und Schärfe braucht, entstand daraus ein suppiger, unverbindlicher Klang. Bei Bruckner, der auf Geheimnis und Überwältigung abzielt, funktioniert es auf großartige Weise.
Denn Nelsons liebt nicht nur den schwerblütigen, dunklen Klang des Gewandhausorchesters, er kultiviert ihn auch. Formt Phrasen, sucht Schattierungen, lässt die Streicher blühen. Auch im hemmungslosen fortissimo klingt das Orchester immer rund und warm.
Dieses Album lohnt sich, weil …
… hier die unterschätzte Zweite Symphonie von Bruckner besonders schön interpretiert wird.
Dieses Album hört man am besten …
… mit Zeit und Ruhe, damit man die tollen pianissimo-Stellen genießen kann.
Dieses Album beweist, dass …
… viele gute Dirigenten ihre Stärken nur bei ganz bestimmtem Repertoire zeigen.
Am wichtigsten bei Bruckner ist die Dramaturgie. Allein der erste Satz der Achten dauert mehr als 18 Minuten. Die Abschnitte werden wie riesige Blöcke aneinandergereiht, immer neue Steigerungswellen folgen aufeinander. Das kann leicht ermüdend wirken, wenn ein Dirigent zu schnell in die Vollen geht. Nelsons beherrscht die Kunst der allmählichen Steigerung perfekt. Er spielt seine Trümpfe überlegt aus, behält immer noch genügend Reserven in der Hinterhand, um bis zum Schluss nachlegen zu können.
Nicht ganz so gut liegen ihm die Scherzi. Hier, wo Bruckner rhythmischen Drive, motorische und tänzerische Energien entfesselt, stört wieder Nelsons‘ Hang zum allzu weichen Klang. Umso besser gelingen ihm die langsamen Sätze. Wie er die unendlich weiten Linien ausspinnt, wie fein er abstuft zwischen piano und pianissimo, das ist wirklich fesselnd und auch sehr berührend. Bruckner ist eben nicht nur ein martialischer Überwältigungskünstler, sondern hat auch unglaublich zärtliche und zerbrechliche Klänge erfunden.
Nelsons spürt ihnen nach – nicht nur in der populären Achten, sondern auch in der zu Unrecht vernachlässigten Zweiten. Deren langsamer Satz zelebriert Musik am Rand des Verstummens. Hier sprechen die Pausen manchmal mehr aus als die Klänge. Vorausgesetzt, der Dirigent beherrscht die große Kunst, die Spannung aufrecht zu erhalten. Was bei schwächeren Dirigenten oft spröde und langatmig wirkt, ist bei Nelsons in jedem Takt beseelt. Ja, Bruckners Zweite, die im Konzert fast nie zu hören ist, ist ein großes Meisterwerk, und sie kann sich neben der Achten durchaus behaupten. Schon für diese überraschende Erkenntnis lohnt sich dieses schöne Album.
Anton Bruckner
Symphonien Nr. 2 und 8
Richard Wagner
Vorspiel zur Oper "Die Meistersinger von Nürnberg"
Gewandhausorchester Leipzig
Leitung: Adnris Nelsons
Label: Deutsche Grammophon
Sendung: "Piazza" am 10. April 2021 ab 8:05 Uhr auf BR-KLASSIK