Anna Lucia Richter ist längst kein Geheimtipp mehr. Auf den wichtigsten Bühnen des Liedgesangs, bei der Schubertiade und in der Londoner Wigmore Hall, wurde sie gefeiert. Auch bei den BR-KLASSIK-Studiokonzerten war sie zu Gast. Im Sommer wird sie mit Christian Gerhaher Mahlers "Wunderhorn"-Lieder beim Luzern Festival singen. Eine steile Karriere hat die junge Sopranistin bereits gemacht – nun legt sie ihr neues Lied-Album vor. Gewidmet ist es Franz Schubert.
Bildquelle: Pentatone
Das Album der Woche zum Anhören
Sie hat eine fast schwerelose, wunderbar klare Stimme. Manchmal klingt sie ganz gerade, durchsichtig wie klares Wasser, ohne jedes Vibrato, rein. Aber nicht engelhaft oder körperlos. Auch wenn es um den Ausdruck kindlicher Unschuld geht, etwa in Schuberts Vertonungen von Goethes Mignon-Liedern, ist diese Stimme beseelt, verführerisch und berührend.
Doch Anna Lucia Richter kann beim Hören nicht nur in weltentrückte Innerlichkeit entführen, sie kann auch dramatische Szenen heraufbeschwören – etwa in "Der Zwerg", einer der berühmtesten Balladen von Schubert. Und ihr stehen auch dunkle Farben zur Verfügung. In "Totengräbers Heimweh" etwa, einem von Schuberts düstersten Liedern, in dem ein alter Totengräber nach dem Sinn des Lebens fragt. Und sein Heimweh gilt – dem Grab.
Dieses Album muss man haben, weil …
… es ganz einfach umwerfend schön ist.
Dieses Album ist ein Hörgenuss, weil…
… Anna Lucia Richter und Gerold Huber zwischen den Zeilen lesen.
Dieses Album hört man am besten…
… am frühen Abend – dann verwandelt sich die Melancholie der Dämmerung in puren Genuss.
"Heimweh" ist das Thema und der Titel dieses wunderschönen Albums. Zum Glück ist es nicht in jedem Text so abgründig wie das Heimweh des Totengräbers. Melancholie aber prägt alle diese Lieder. Von Verlust erzählen sie, von Sehnsucht, vom Gefühl, fremd zu sein und fremd zu bleiben. Heimweh ist ein Grundgefühl bei Schubert. Dabei geht es nicht nur um Orte, sondern um eine existenzielle Erfahrung: Nicht nur einer bestimmten Landschaft kann das Heimweh gelten, sondern auch der Kindheit oder einem verlorenen Gefühl der Geborgenheit.
Warum will man dann aber immer mehr davon bekommen? Warum bereitet die Melancholie, die Schuberts Musik grundiert, so viel Genuss? Warum macht ausgerechnet diese oft traurige Musik so süchtig? Letztlich kann dieses Rätsel niemand lösen. Liederabende liegen nicht im Trend, aber für eine junge Künstlerin wie Anna Lucia Richter haben Schuberts Lieder ganz offenbar eine nicht nachlassende Faszination. Die zu Herzen gehende Schönheit der Melodien, aber auch die unter die Haut gehende psychologische Kraft dieser Musik berühren ganz unmittelbar.
Mit großem Feingefühl spürt Anna Lucia Richter dem Zusammenspiel von Text und Musik nach – ohne dabei den schwer erklärlichen Zauber der Einfachheit zu zerstören. Am Flügel begleitet Gerold Huber – aber was heißt da begleiten? Huber atmet jede Phrase, die Anna Lucia Richter singt, denkt und fühlt jedes Wort, das sie spricht. Das ist große Kunst. Unbedingt hörenswert.
Franz Schubert:
Lieder
("An den Mond", "Der Zwerg", "Lieder der Mignon", "Totengräbers Heimweh", "Der Hirt auf dem Felsen" u.a.)
Anna Lucia Richter (Sopran)
Gerold Huber (Klavier)
Matthias Schorn (Klarinette)
Label: Pentatone
Sendung: "Piazza" am 18. Mai 2019, 08:05 Uhr auf BR-KLASSIK