BR-KLASSIK

1995 ist der italienische Pianist Arturo Benedetti Michelangeli im Alter von 75 Jahren gestorben – ein ganz besonderer Künstler. Jetzt wurde eine Box mit zehn CDs veröffentlicht, die Live-Mitschnitte aus Rom, Prag, Warschau, Mailand, London oder Turin enthält. Darunter finden sich ganz frühe Aufnahmen aus den 40ern, auch solche aus den 50er und 60er Jahren. Zwar wurden sie alle schon einmal irgendwo veröffentlicht, doch derart geballt auf 10 CDs sind sie trotzdem ein Erlebnis.

Seine Konzertabsagen waren legendär. Und gelegentlich kamen sie in wirklich allerletzter Minute, wenn das Publikum schon im Saal saß. Dass ein Veranstalter vor dem Konzert den Saal lüften ließ, konnte genügen. Arturo Benedetti Michelangeli reiste ab, fest davon überzeugt, die Flügelstimmung sei durch den Luftzug heillos ruiniert. Das Publikum verzieh ihm, wartete geduldig auf die nächste Chance, ihn zu erleben. Vielleicht auch, weil es begriff, dass Benedetti Michelangeli nie Konzerte platzen ließ, weil er das Medienspektakel liebte. Es interessierte ihn nicht, ja es war ihm verhasst, denn im Grunde scheute er die Öffentlichkeit. Dass die Menschen so viel Geld für seine Konzerte bezahlten, wollte er nie begreifen. "So viel Applaus, so viel Publikum", meinte er einmal. "Eine halbe Stunde später fühlst du dich einsamer als zuvor."

Ein Besessener

Arturo Benedetti Michelangeli, einer der ganz großen Pianisten des 20. Jahrhunderts, war ein Besessener. Das Gefühl, irgendetwas in seinem Spiel eventuell nicht kontrollieren zu können, war für ihn unerträglich. "Pianist und Musiker zu sein ist kein Beruf", meinte er in einem seiner raren Interviews. "Es ist eine Philosophie, eine Lebensform, die sich weder auf gute Absichten noch auf das natürliche Talent stützen darf. Vor allem erfordert sie eine unvorstellbare Opferbereitschaft."

Klarheit und Reichtum an Klangfarben

Ein Perfektionist. Die Nonchalance, mit der ein Arthur Rubinstein schon mal danebengriff – nichts für Benedetti Michelangeli oder ABM, wie ihn viele liebe- und respektvoll nannten. Er war ein Präzisionsfanatiker, ein Klangtüftler, für manchen vielleicht auch einfach ein Wahnsinniger. Auf irgendeinem Flügel ein Konzert zu geben: undenkbar. Ohne den eigenen – und den eigenen Klaviertechniker – ging nichts auf seinen Reisen. Das Repertoire, mit dem er in die Öffentlichkeit trat, war entsprechend schmal, obwohl von seinen Schülern bekannt ist, dass es immens war. Dafür hat er uns Aufnahmen hinterlassen, die in ihrer strukturierten Klarheit, ihrem Reichtum an Klangfarben, aber auch ihrer Emotionalität absolut herausragend sind und zu Recht Kultcharakter besitzen: die Bach-Chaconne in der Transkription Busonis, Schumanns "Carnaval", Ravel und Debussy – klar, man konnte und kann das anders spielen, doch individuellere, bessere, fesselndere Interpretationen wird man schwerlich finden.

Sendung: "Piazza" am 20. Juli 2019, 08:05 Uhr auf BR-KLASSIK