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Album der Woche – Bachs "Matthäus-Passion" Ohne jegliche künstliche Forcierung

Er gilt als neuer Shootingstar der historischen Aufführungspraxis: der Franzose Raphaël Pichon, Jahrgang 1984. Nachdem Pichon schon als Knabe im Versailler Kinderchor Petits Chanteurs gesungen hatte, studierte er Geige und Klavier und sang als Coutertenor unter Maestri wie Ton Koopman, Gustav Leonard, Jordi Savalli und Laurence Equilbey. Zusammen mit seinem 2006 gegründeten Ensemble Pygmalion legt er jetzt sein neues Album bei Harmonia Mundi vor: Johann Sebastian Bachs "Matthäuspassion".

Bildquelle: Harmonia Mundi

Der CD-Tipp zum Anhören

Schlank ist es vor allem, dieses Klangbild, das Raphaël Pichon mit seinem Ensemble produziert. Keine monumentalen Klagmassen, kein aufgesetztes Pathos; stattdessen größtmögliche Transparenz und Klarheit in der Linienführung.  Auch der Überchor mit dem Cantus firmus erinnert weniger an ein starres Orgelregister, sondern fügt sich organisch in den Klagechor ein. Und es sind tatsächlich Töchter – sprich: Frauenstimmen, die da klagen und nicht der übliche Knabenchor.

Kurz und bündig

Dieses Album ist ein Geschenk für …
… alle Bach-Fans, die Bach auf dem aktuellen Stand der Interpretation hören möchten

Dieses Album wird all diejenigen glücklich machen, die …
… einen entschlackten und jederzeit transparenten Bach-Klang suchen.

Auf dieses Album haben alle Hörerinnen und Hörer gewartet, die …
… das innere Drama in der "Matthäuspassion" suchen anstelle äußerlicher Attitüde.

Rhythmische Präzision und maximale Textverständlichkeit

Ansonsten nimmt es Raphaël, was die Besetzungsstärke und Balance zwischen Vokal- und Instrumentalensemble angeht, historisch ziemlich genau: Je 16 bzw. 17 Stimmen zählt jeder der beiden Chöre, und ungefähr dieselbe Anzahl steht ihnen in den Orchestern gegenüber. Auch die Solisten kommen, wie zur Zeit Bachs, aus den Reihen der Chöre.  Rhythmische Präzision trifft sich mit maximaler Textverständlichkeit – und all das vorgetragen ohne jegliche künstliche Forcierung. Die Dramatik steckt für Pichon nämlich bereits in Bachs Notentext und Orchestrierung ...

Die Zeiten von historisch beflissenem Tempo-Rausch sind vorbei

Hana Blazikova als Solo-Sopran und Tim Mead sind stimmlich überzeugend; obwohl man sich natürlich wieder einmal fragen kann, ob nicht ein weiblicher Alt anstelle eines Countertenors die bessere Wahl gewesen wäre. Mir persönlich wäre hier tatsächlich eine Altistin lieber gewesen, vorzugsweise eine Muttersprachlerin, die weniger hörbar mit den Tücken der deutschen Sprache zu kämpfen hat. Aber das ist Jammern auf höchstem musikalischem Niveau; denn das gilt für diese französische Neuproduktion der "Matthäuspassion" in jedem Fall. Auch was die Tempi angeht, zeigt diese Aufnahme, dass die Zeiten von historisch beflissenem Tempo-Rausch gottseidank vorbei sind: Raphaël Pichons Bach ist im besten Sinne modern und abgeklärt, was die Erkenntnisse der Bach-Interpretation angeht. Er dürfte all diejenigen ansprechen, die das Drama im Inneren dieser Musik suchen – und nicht in äußerlicher Attitüde.

Infos zur CD

Johann Sebastian Bach:
"Matthäus-Passion" BWV 244


Julian Pregardien, Tenor – Evangelista
Sabine Devieilhe, Sopran – Uxor Pilatus
Lucile Richardot, Alt
Reinoud van Maechelen, Tenor
Stephane Degout, Bass – Jesus

Hana Blazikova, Sopran
Tim Mead, Altus – Testis 1
Emiliano Gonzales, Tenor – Testis 2
Christian Immler, Bass – Pilatus

Maitrise de Radio France
Pygmalion
Leitung: Raphaël Pichon

Label: Harmonia Mundi

Sendung: "Piazza" am 09. April 2022 um 08:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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