Er legt sich gern auf Twitter mit Rechtskonservativen an, nutzt sogar manchmal auch Konzerte für politische Statements: Der Pianist Igor Levit ist ein engagierter Künstler. Und er brennt für die Musik Ludwig van Beethovens. Gerade hat er im Vorgriff auf das kommende Beethoven-Jahr sämtliche Klaviersonaten von seinem Idol eingespielt. Eine gewichtige Box mit neun CDs, die bei Sony erschienen ist.
Bildquelle: Sony Classical
Wenn von "Werktreue" die Rede ist, wird Igor Levit skeptisch. "Werktreue" – was soll das sein? Die Noten sind ja nicht die Musik. "Geschwinde, doch nicht zu sehr, und mit Entschlossenheit": Das schreibt Beethoven als Vortragsanweisung über den letzten Satz der Klaviersonate op. 101. Was genau heißt das jetzt – "geschwinde, doch nicht zu sehr"? Also wie jetzt? Und wie um Himmels willen spielt man das "werktreu"? Ganz einfach: Indem man sich traut, eine Entscheidung zu treffen, eine eigene, notwendig subjektive Entscheidung. Das ist es ja gerade, was Beethoven fordert: "mit Entschlossenheit". So gesehen ist Werktreue gar nicht möglich ohne Treue zu sich selbst.
Dieses Album lohnt sich, weil …
… man damit Beethovens Sonaten als eine Welt unbegrenzter Möglichkeiten entdecken kann.
Dieses Album ist ein Hörgenuss, weil …
… Igor Levit Freiheit nie mit Willkür verwechselt.
Dieses Album lädt ein zum …
… Staunen, wie gegenwärtig 200 Jahre alte Musik sein kann.
Wenn man sich auf die lange Reise macht und tatsächlich alle diese neun CDs mit den 32 Klaviersonaten nacheinander durchhört, dann beeindruckt gerade das am meisten: Wie Levit sich die Treue hält, während er sich mit Haut und Haar der Musik verschreibt. Beethovens Motto war ja: "Freiheit über alles lieben." Und das ist, richtig verstanden, genau das Gegenteil von Willkür. Levit ist nämlich, und das macht seine Einspielung so lohnend, alles andere als ein Manierist. Mit seiner hörbaren Lust an der Freiheit gibt er zwar subjektive Statements – aber er antwortet damit immer präzise auf die Fragen, die Beethoven stellt.
Treu ist sich Levit in seiner Lust an dynamischen Extremen. Pianissimo – das kann an die Grenze des Hörbaren gehen. Akzente können schmerzen – oder auch nur angedeutet werden. Mit unendlich differenziertem Anschlag findet Levit immer individuelle Lösungen. Beethovens Welt, so zeigt er uns, ist viel reicher, als das Klischee es will.
Die Hits unter den Klaviersonaten mit den sprechenden Titeln, die "Pathétique", die "Mondscheinsonate" und die "Appassionata", zeigen ja nur einen winzigen Ausschnitt aus der Vielfalt der Charaktere. Jede Sonate ist ein Unikat. Alle paar Jahre wagt Beethoven einen kompletten Neuanfang. Und die ganze Reihe ist kein monolithischer Block, sondern eine Serie von Experimenten mit ständig wechselnder Versuchsanordnung. Da gibt es Wut und Humor, Übermut und Verzweiflung, schrullige und gefällige, krass sperrige und überraschend liebliche Stücke. Und so sind Levit nicht nur die "Schlachtrösser" wie die Waldstein- oder die Hammerklaviersonate herausragend gelungen, sondern auch solche originellen, in kein Raster passendenden Meisterwerke wie die nur zweisätzige Fis-Dur-Sonate op. 78.
In einigen langsamen Sätzen nimmt sich Levit ganz zurück. Dann erzeugt er unglaublich dichte, aber gelegentlich auch etwas ätherische Stimmungen. In manchen Sätzen wünsche ich mir mehr Gesanglichkeit, mehr Spannungsbögen in den Phrasen, mehr Körperlichkeit, weniger Zurückhaltung. Etwa im wunderschönen Finale von op. 90, wo Beethoven drüberschreibt: "Nicht zu geschwind und sehr singbar vorgetragen". Aber was genau heißt das? Levit gibt eben seine Antwort, und er bleibt sich treu. Immer.
Am besten gefällt er mir, wenn er Beethovens Nervosität ausreizt, wenn er im Tempo an Grenzen geht, wenn die Ereignisse sich überschlagen. Dann spielt er mit einer geradezu schwindelerregenden Reaktionsschnelligkeit, dann funkeln die Ideen, dann scheint alles möglich. Rein manuell sowieso, aber auch in der Durchdringung von Form und Ausdruck ist Levit einer der überragenden Pianisten der Gegenwart. Diese Gesamteinspielung ist ein Ereignis. Und sie ist ein großes Vergnügen. Denn sie lädt ein, in einer begrenzten Versuchsanordnung schier unendliche Möglichkeiten zu entdecken: Zwei Hände, zehn Finger, 88 Tasten und 32 Sonaten – Freiheit über alles!
Ludwig van Beethoven:
Klaviersonaten Nr. 1 – 32
Igor Levit (Klavier)
Label: Sony Classical
Sendung: "Piazza" am 14. September 2019, 08:05 Uhr auf BR-KLASSIK