Mit 94 ist er der derzeit älteste international auftretende Dirigent: Herbert Blomstedt hat eine erstaunliche Alterskarriere gemacht. Als Ehrendirigent der Bamberger Symphoniker und häufiger Gast beim BR-Symphonieorchester ist er für Bayerische Klassikfans ein fester Begriff. Auch in den internationalen Musikzentren wird er gefeiert. Nun hat Blomstedt eine Gesamteinspielung der Symphonien von Johannes Brahms mit dem Leipziger Gewandhausorchester fertig gestellt. Zu hören darauf: Brahms‘ Dritte und Vierte. Bernhard Neuhoff stellt das Album vor.
Bildquelle: Pentatone
Die Welt ist nicht gerecht. Das gilt auch für die klassische Musik. Beim Altern zum Beispiel. Die einen merken schon mit Mitte Vierzig, dass manches einfach nicht mehr so geht wie früher. Das hat nicht nur mit dem individuellen Altern zu tun, sondern auch mit dem Beruf. Wer Trompete spielt, hat mit Mitte 50 schlicht nicht mehr so viel Kraft in den Lippen. Auch beim Geigen ist das Alter ziemlich unbarmherzig, irgendwann wird der Bogen flatterig. Pianistinnen und Pianisten haben es da gut: Sie halten viel länger ihr technisches Leistungsniveau. Der legendäre Miczyslaw Horszowski gab sein Debut 1902 als Wunderkind und veröffentlichte seine letzte CD 1992, im zarten Alter von hundert Jahren. Nun ja, ein wenig zittrig klang das schon. Aber immer noch hörenswert. Noch besser haben es nur die Dirigenten. Die werden nämlich, wenn sie die 90 überschritten haben und weiter auftreten, nicht nur höflich als Wundergreise bestaunt. Sondern überzeugen oft als Künstler mehr denn je.
Manche geben mit über 90 nicht nur erstaunlich gute, sondern sogar einige ihrer schönsten Konzerte. Herbert Blomstedt ist so ein Fall. Der in den USA geborene Schwede ist 94 Jahre alt. Und kann sich die berühmtesten Orchester aussuchen. Er geht nicht mehr mit schnellen Schritten auf die Bühne wie früher, dirigiert aber auch stundenlange Mahler-Symphonien im Stehen. Und mit einer Präsenz und Energie, die viele jüngere Kollegen neidisch machen muss. Blomstedt macht weit ausschwingende Bewegungen, liebt pulsierende Tempi, treibt gern die Musik mit seinen charakteristischen Handkantenschlägen ein wenig nach vorn. Aber die größte Wirkung bei den Musikerinnen und Musikern erzielt er mit seinen intensiven Blicken. Unter den buschigen weißen Augenbrauen blitzen seine wachen, lachenden Augen. Klar, dass er Brahms, einen seiner Lieblingskomponisten, auswendig dirigiert.
Mit dem Leipziger Gewandhaus-Orchester verbindet Blomstedt eine lange Freundschaft. Und man spürt in dieser Aufnahme, wie lebendig sie ist. Blomstedt ist keiner, der auf Luxusklang aus ist, der im Wohlklang badet. Diese Konzertmitschnitte der dritten und vierten Symphonie von Brahms überzeugen nicht durch perfektionistische Raffinesse, sondern durch die unmittelbare, natürliche Menschlichkeit, die Blomstedt ausstrahlt.
Die Musik soll sprechen, pulsieren, atmen. Am schönsten ist es, das live zu sehen und zu erleben. Auf diesem Album kann man darüber staunen, wie unmittelbar sich diese ganz besondere Ausstrahlung im klanglichen Ergebnis spiegelt. Warm und dunkel, wie es zum Gewandhausorchester passt, aber schlank und kammermusikalisch.
Viele große Dirigenten sind die geborenen Manipulatoren, Karajan etwa. Der hatte nicht mal was dagegen, wenn man ihn einen Manipulator nannte – was denn sonst. Blomstedt ist das genaue Gegenteil eines Manipulators: Er setzt auf Unmittelbarkeit, verzichtet auch gern auf den Stab, dirigiert am liebsten ohne Pult – auf Augenhöhe, nahbar. Mit seiner menschlichen Offenheit beim Musizieren erreicht er die Herzen. Gerade die Verletzlichkeit des Alters hat diese kommunikative Stärke bei Blomstedt noch sichtbarer gemacht.
Johannes Brahms:
Symphonie Nr. 3 F-Dur, op. 90
Symphonie Nr. 4 e-Moll, op. 98
Gewandhausorchester Leipzig
Leitung: Herbert Blomstedt
Label: Pentatone
Sendung: "Piazza" am 04. Juni 2022 ab 8:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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