In jeder Klasse hat einer die Rolle des Professors. Einer ist "The Brain", der mit dem Computerhirn, der Checker und Durchblicker. Wenn man sich die Komponisten der Romantik spaßeshalber einmal als Schulklasse vorstellen würde, dann wäre klar, wer die Rolle des "Professors" hätte: Johannes Brahms. Zwar bezweifelt niemand, dass er dazugehört. Aber irgendwie hat er auch eine Sonderrolle: Seine Musik ist so unglaublich durchdacht, dass er doch ziemlich auffällt unter den Romantikern.
Bildquelle: Alpha Classics
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Keiner von Brahms' Kollegen, von Chopin bis Tschaikowsky, hat so gute Sonatenhauptsätze gebaut. Keiner hat den Kontrapunkt so lässig beherrscht. Brahms konnte es einfach, darin war er halt besser. Und zugegeben: Mit seinem Vollbart und seinen gutbürgerlichen Gehröcken sah er schon auch ein bisschen aus wie ein Professor. Und wie das so geht: Die Überflieger werden gern ein wenig gehänselt. Es gibt von den Brahms-Verächtern, angefangen bei Zeitgenossen wie Friedrich Nietzsche, jede Menge Versuche, Brahms ein Streber-Image anzuhängen.
Der beste Beweis, dass dieses Vorurteil schlicht und einfach Blödsinn ist, sind die beiden Streichsextette. Und eine der allerschönsten Aufnahmen dieser emotional überwältigenden und unwiderstehlich sinnlichen Musik ist die neue Aufnahme des Belcea-Quartets.
Damit aus dem Quartett ein Sextett wird, haben sich die Belceas die Bratschistin Tabea Zimmermann und den Cellisten Jean-Guihen Queyras mit ins Boot geholt. Schöner kann man diese Musik kaum spielen. Und inspirierter hat selbst Brahms selten komponiert als etwa im zweiten, dem G-Dur-Sextett. Ja, Brahms war ein Meister in Sachen Satzlehre. Aber er war eben auch ein Klangmagier.
Am Beginn des G-Dur-Sextetts breitet die zweite Bratsche im geheimnisvollen piano einen flirrenden Klangteppich für die anderen Instrumente aus. Eine berückende Klangregie, die effektvoll die leere G-Saite nachschwingen lässt. Das ist keine Musik für den Kopf, nichts, was man sich auf dem Papier ausdenkt. Das zielt direkt auf den Körper, geht mitten ins Herz. Brahms reizt die klanglichen Möglichkeiten der Sextett-Besetzung aus: Mit den doppelt besetzten tiefen Instrumenten Bratsche und Cello klingt das viel dunkler, reicher und schwelgerischer als ein Streichquartett. Was für ein satter, sinnlicher Sound ist das!
Und dann diese Melodien. Für mich gibt es kaum inspiriertere melodische Einfälle als die Themen in den Brahms-Sextetten. Das erweiterte Belcea-Quartet lässt ihre Schönheit aufblühen. Ganz ohne sentimentale Drücker, einfach mitgerissen vom unmittelbaren, unwiderstehlichen Gefühl dieser Musik, natürlich und glaubwürdig. Dass es derzeit kaum ein Kammermusikensemble gibt, das technisch besser spielt als das Belcea-Quartet, nimmt seiner Interpretation nichts von ihrer Emotionalität. Das ist ja das Schöne an der Musik: Herz und Hirn, Gefühl und Verstand finden zusammen. Brahms' Musik und diese Einspielung beweisen es.
Johannes Brahms:
Streichsextett Nr. 1 B-Dur, op. 18
Streichsextett Nr. 2 G-Dur, op. 36
Belcea-Quartet
Tabea Zimmermann (Viola)
Jean-Guyhen Queyras (Violoncello)
Label: Alpha Classics
Sendung: "Piazza" am 16. April 2022 ab 8:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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