Mangelnde Entdeckerfreude kann man dem Pianisten Kirill Gerstein nicht vorwerfen. Sonst hätte er sich bestimmt nicht auf eine Rarität wie das Klavierkonzert von Ferruccio Busoni eingelassen. Das spielte Gerstein im Frühjahr 2017 mit dem Boston Symphony Orchestra unter Sakari Oramo im Konzert. Und jetzt ist der Mitschnitt erschienen.
Bildquelle: Myrios Classics
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Ferruccio Busoni war ziemlich sicher einer der größten Pianisten überhaupt. Der erste öffentliche Auftritt des Achtjährigen bedeutete den Auftakt zu einer Karriere, wie sie zuvor wohl nur Franz Liszt, danach allenfalls noch Sergej Rachmaninow erlebte. Als Pädagoge wirkte der Sohn einer deutschen Pianistin und eines italienischen Klarinettisten in Wien, Moskau, Boston, New York und ab 1908 in Berlin. In seiner 1906 verfassten Schrift "Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst" erwies Busoni sich als echter Visionär. Er träumte von quasi zwölftönigen Strukturen, von Drittel- und Sechsteltönen, ja sogar von elektronischer Musik. Der konservative Hans Pfitzner sah sich genötigt, solch wegweisendem revolutionärem Elan mit seinem Pamphlet "Futuristengefahr" zu begegnen und den Untergang des musikalischen Abendlandes zu beschwören. Doch so sehr der theoretische Querdenker Busoni auf das Neue, noch nicht Gehörte setzte, als Komponist bewegte er sich weitgehend in traditionellen, an seinen Hausgöttern Bach, Mozart und Beethoven orientierten Bahnen.
Dieses Album muss man haben, …
… weil es – fast – kein zweites Klavierkonzert von solchen Ausmaßen gibt. Ein Achttausender.
Dieses Album lohnt sich, …
… weil es dieses fast nie zu hörende Werk in einem glanzvollen, absolut schlüssigen Live-Mitschnitt bietet.
Dieses Album lädt dazu ein, …
… sich mit einem tollen Komponisten zu beschäftigen. Busoni war nicht nur ein großer Pianist!
Dieses Album hört man am besten …
… bei einem wirklich guten – passenderweise schweren – Rotwein.
Dennoch war Busoni alles andere als ein Epigone. Kurz nach der Jahrhundertwende schrieb er sein Klavierkonzert in C-Dur, das schon wegen seiner Ausmaße im Konzertleben ein Exot blieb. Fast 75 Minuten Länge, ein Männerchor mit schwer erträglichem Text im fünften und letzten Satz, ein höchst anspruchsvoller, aber nicht wirklich dankbarer Klavierpart, all das ist dann des Guten wohl doch ein wenig zu viel und hat die Rezeption nicht gerade beflügelt.
So haftet diesem Klavierkonzert bis heute der Ruf des Kuriosums an, was schade ist und womit man Busoni Unrecht tut. Denn der jetzt erschienene Konzertmitschnitt mit Kirill Gerstein und dem Boston Symphony Orchestra unter Sakari Oramo macht erneut überdeutlich, dass da schlicht fantastische Musik zu erleben ist, einerseits hochemotional und packend, andererseits kompositionstechnisch absolut brillant und durchgefeilt. Auch der Italiener Busoni bricht sich hier Bahn, mit Zitaten italienischer Volkslieder, nachempfundener italienischer Melodik und dem atemberaubenden vierten Satz, einer wüsten Tarantella, die Busoni ausdrücklich mit "All'Italiana" überschrieb.
Der Männerchor am Schluss bleibt die Achillesferse des Stücks, in diesem Live-Mitschnitt auch deshalb, weil der Tanglewood Festival Chorus ein wenig bemüht agiert. Überragend hingegen spielt Kirill Gerstein. Gemeinsam mit dem glänzenden Boston Symphony entlockt er dem streckenweise etwas sperrigen Klavierpart alles Menschenmögliche an Virtuosität, Überzeugungskraft und denkbaren Farbenreichtum. Und dem wunderbaren langsamen Mittelsatz verleiht er jenen tief humanen Aspekt, der dem Visionär Ferruccio Busoni vorgeschwebt haben dürfte. Ein fantastisches Plädoyer für ein sehr besonderes, aber auch besonders schönes Werk.
Feruccio Busoni:
Klavierkonzert (mit Schlusschor) op. 39
Kirill Gerstein (Klavier)
Tanglewood Festival Chorus
Boston Symphony Orchestra
Leitung: Sakari Oramo
Label: Myrios Classics
Sendung: "Piazza" am 04. Mai 2019, 08:05 Uhr auf BR-KLASSIK