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Album der Woche – Chiaroscuro Quartet Streichquartette von Joseph Haydn

Darmsaiten statt Saiten aus Stahl oder Kunststoff, dazu alte Bögen: Die Instrumente, die Haydn, Mozart und Beethoven kannten, klangen ganz anders als heutige. In der Orchestermusik sind die sogenannten Originalklangensembles längst eine feste Größe. Bei der Kammermusik sieht es anders aus. Doch es gibt auch einige wenige Streichquartette, die auf historischen Instrumenten so gut spielen, dass sie den konventionellen Ensembles Konkurrenz machen können. Zu ihnen gehört das Chiaroscuro Quartett.

Bildquelle: BIS

Der CD-Tipp zum Anhören

"Witz" – das bedeutet heute so viel wie: Späßle, Joke, Schote, Kalauer. Um 1800 herum, als Joseph Haydn lebte und komponierte, bedeutete das Wort etwas ganz anderes: Wer Witz hatte, der hatte Geist, Schlagfertigkeit, einen scharfen Verstand, Kombinationsgabe und die Fähigkeit, seine Zuhörer nicht nur zu erheitern, sondern auch auf mit neuem Wissen zu überraschen. Kein Wunder, die Wörter "Witz" und "Wissen" haben dieselbe Wurzel.

Unterschätzter Humor

Joseph Haydn gilt als ein besonders humorvoller Komponist. Aber damit ist ein Missverständnis verbunden. Haydns Humor wird nämlich gern unterschätzt. Schon zu seinen Lebzeiten bekam er den Spitznamen Papa Haydn. Und Robert Schumann nannte ihn "einen gewohnten Hausfreund, der immer gern empfangen wird", aber tieferes Interesse für die Gegenwart habe er nicht mehr. Dieses Missverständnis besteht im Grunde bis heute fort. Haydns Witze sind jedoch nur dann gemütliche Späßchen, wenn man seine Musik so harmlos spielt, wie schlechte Interpreten sie missverstehen. Und das Schlimme ist: Sehr viele sehr berühmte Starinterpreten, die romantische Musik sehr gut spielen, spielen Haydn grauenvoll langweilig.

Kurz und bündig

Dieses Album hat gefehlt, weil …
Haydn noch immer viel zu oft verharmlost wird.

Dieses Album wird lieben, wer …
Freude an musikalischen Pointen hat.

Dieses Album hört man besten …
bei einem Glas sehr trockenem Riesling-Sekt. Wenn der überhaupt nötig ist: Die Wirkung ist ähnlich, nur besser.

Kein Einheitsbrei des dicken Wohlfühlklangs

Umso besser, dass es die historische Aufführungspraxis gibt. Wer Haydn wie das exzellente Chiascuro Quartett auf Original-Instrumenten spielt, der kann ihn schon mal nicht unterschätzen. Die vier ebnen die Reibungen und Widerstände dieser Musik nicht im Einheitsbrei des dicken Wohlfühlklangs ein, den allzu viele Ensembles immer noch über Haydns Musik gießen. Sondern sie legen die Radikalität dieser Musik frei, ihre Lust am Risiko, den Tanz auf Messers Schneide.

Haydns kombinatorischer Witz ist durchaus bizarr. Dieser Komponist hat die größte Freude darin, Dinge miteinander zu verbinden, die eigentlich Welten auseinanderliegen. Sie ist mal superkomplex, mal provozierend simpel. Derbes und Feines, Rokoko-Salon und Kuhstall, der Dudelsack der ungarischen Bauernmusik und die gelehrten Kunststücke des barocken Kontrapunkts, schlichte Gassenhauer und haarsträubende harmonische Hexereien: alles auf engstem Raum. In dieser Musik geht es in Höllentempo durch Lichtjahre voneinander entfernte Tonarten, die Instrumente grummeln und gleißen in extremen Lagen. Es gibt abgründige Melancholie, Wut, Zärtlichkeit, Aggression und rauschhafte Lust an der Geschwindigkeit. Und dann wieder, nach all den zu seiner Zeit absolut avantgardistischen Hörabenteuern, Musik, die durch ihre unmittelbar zu Herzen gehende Einfachheit tief berührt.

Kurzweiliges Hörvergnügen

Das Chiaroscuro Quartett macht Haydns Witz mit seiner funkelnden Intelligenz und seiner menschlichen Tiefe zu einem aufregenden, unglaublich kurzweiligen Hörvergnügen. Ganz geradeheraus spielen die vier, technisch blitzblank, perfekt artikuliert und detailverliebt, aber auch ideenreich und mit der nötigen Phantasie. In dieser exemplarischen Interpretation sind Haydns Pointen etwas völlig anderes als bloß Jokes: Es sind kleine Erkenntnisblitze, die große Freude bereiten.

Infos zur CD

Chiaroscuro Quartet
Joseph Haydn
Streichquartette Op.76, 4-6

Label: BIS

Sendung: "Piazza" am13. März 2021 ab 8:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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