Hemmungslos und respektlos gegenüber der Partitur sagen die einen, ein Genie sagen die anderen. Das Spiel vom Pianisten Ivo Pogorelich polarisiert, auch das auf seiner neuesten CD mit Klavierwerken von Frédéric Chopin. Aber gerade deshalb ist sie unbedingt empfehlenswert.
Bildquelle: Sony Classical
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Mit normalen Maßstäben darf man das neue Chopin-Album von Ivo Pogorelich nicht messen. Die musikalische Hemmungslosigkeit seiner Interpretationen, die Respektlosigkeit gegenüber der gedruckten Partitur und die Vielzahl persönlicher Manierismen ließen nämlich nur ein Urteil zu: Was erlauben Pogorelich? Ist das überhaupt noch Chopin? Aber es gibt durchaus auch noch eine andere Lesart, die ein Kritiker der New York "Times" einmal so zusammengefasst hat: "Er ignoriert die Partitur und macht alles falsch. […] er ist eindeutig ein Genie". Aber auf welche Seite man sich auch schlägt – fest steht: Diese Einspielung wird polarisieren!
Vier Werke von Chopin hat sich Pogorelich für die rund einstündige neue CD ausgesucht. Allesamt aus den 1840er Jahren, dem letzten Lebensjahrzehnt des polnischen Meisters. Zwei Nocturnes , eine späte Fantasie und schließlich Chopins dritte und letzte Klaviersonate. Pogorelich beginnt langsam, mit der kleinen Form, steigert sich in der Fantasie, und endet schließlich mit dem viersätzigen Sonatenkoloss. Und diesen behutsamen Anlauf braucht es auch, denn sein Spiel ist alles andere als leichte Kost. So hat man Chopin noch nie gehört – auch nicht von Pogorelich!
Dieses Album wird lieben, wer …
… keine Angst hat vor außergewöhnlichen Interpretationen abseits des Mainstreams.
Dieses Album muss man haben, weil …
… es einen erfrischenden und bislang ungehörten Einblick in die Musik Chopins gibt.
Dieses Album lohnt sich, weil ...
… es wieder ein echter Pogorelich ist: kompromisslos und provozierend.
Was als erstes auffällt: Pogorelich nimmt sich extrem viel Zeit! Wo andere Pianisten im Schnitt sechs Minuten brauchen, gönnt er sich fast acht. Das geht aber nie auf Kosten der musikalischen Kontur. Denn trotz der extrem langsamen Tempi ist die Artikulation immer klar wie ein Gletscherbach – und genauso kühl. Das gilt auch für seinen Anschlag, der mitunter eisig wirkt. Flauschiger Wohlfühlklang ist seine Sache also nicht.
Die Dynamik ist extrem: An manchen Passagen spielt er so leise und schwerblütig als spiele er zu Chopins Beerdigung, an anderen Stellen wiederum so expressiv und laut, als wolle er Chopin vom Grab auferwecken. Trotzdem hat man jederzeit das Gefühl, dass er die volle Kontrolle behält. Zwar versenkt er sich bedingungslos in die Stücke – versinken darin tut er jedoch nie.
Pogorelich muss niemandem mehr etwas beweisen und das hört man. Und doch spürt man: Hier macht ein Getriebener Musik. Und zwar sowohl am Klavier als auch im Notentext. Wie Pogorelich da immer wieder wütend an den Noten zurrt und zerrt als wären es Ketten, von denen es sich zu befreien gilt – das verlangt einem beim Hören schon Einiges ab. Aber es ist vielleicht gerade das große Verdienst dieser Aufnahme, diese innere Zerrissenheit so klar herauszuarbeiten. Der Musik Chopins mögen andere Pianisten nähergekommen sein, dem Menschen Chopin aber nur wenige. Und deshalb sollte man Pogorelich auch jedwede Exzentrik verzeihen. Denn wie gesagt: Mit normalen Maßstäben darf man dieses Album nicht messen.
Frédéric Chopin:
Klaviersonate Nr. 3 h-Moll, op. 58
Nocturne c-Moll, op. 48/1
Nocturne E-Dur, op. 62/2
Fantaisie f-Moll, op. 49
Ivo Pogorelich (Klavier)
Label: Sony Classical
Sendung: "Piazza" am 19. Februar 2022 ab 8:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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