Nein, das Stichwort "historisch informierte Aufführungspraxis" steht nicht ganz oben auf der Agenda von Daniil Trifonov, auch dann nicht, wenn er Musik des 18. Jahrhunderts spielt. Er scheut sich nicht, auf seinem Album mit Werken von Johann Sebastian Bach und dessen Familie ein romantisches Bach-Bild zu zeichnen. Doch wer diese Musik so fantastisch spielt wie Trifonov und so kompromisslos zur eigenen Subjektivität steht, unterbindet jede Diskussion über richtig oder falsch. Kann man das so machen? Unbedingt.
Bildquelle: Deutsche Grammophon
Trifonov scheut sich nicht, eine bei anderen Interpreten gut dreiminütige Polonaise von Wilhelm Friedemann Bach auf gut fünf Minuten zu dehnen, oder die von Johann Sebastian aus dem Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach auf das Doppelte gewohnter Länge. Das mag nicht immer stilecht sein. Aber es passt nahtlos zur sehr persönlichen Sicht auf die oft wunderbare Musik, die in den 137 Minuten dieses Albums alles andere als gedanken- oder wahllos vereint ist.
Dieses Album hat gefehlt, ...
... weil es einen fantastischen Pianisten mit bislang ungewohntem Repertoire präsentiert.
Dieses Album wird lieben, ...
... wer Bach und die Musik seiner Zeit nicht unbedingt in historisch informierter Aufführungspraxis hören muss.
Dieses Album ist ein Hörgenuss, ...
... weil es große Musik in einer großartigen Interpretation bietet.
Dieses Album lohnt sich für alle, ...
... die bislang der Meinung waren, Daniil Trifonov sei ein exzellenter, in erster Linie aber technisch brillanter Pianist.
Klar, dass Trifonov die Brahms‘sche Klavier-Fassung von Bachs berühmter d-Moll-Chaconne gut ins Konzept passt. Zugleich bezeichnend, dass er sich nicht für die ungleich romantischere von Ferruccio Busoni entschieden hat. Die Brahms-Version spielt er mit größter struktureller Klarheit, gewiss nicht überromantisiert. Und das gilt auch für Bachs „Kunst der Fuge“. Die taucht Trifonov keineswegs in ein romantisches Licht, auch wenn er das Tempo der langsamen Contrapuncti bis in Grenzbereiche ausreizt. Kein Weichzeichner, klare, manchmal fast gemeißelte Konturen. Trifonov fügt Linien und vertikale Harmonien zu einem wunderbar transparenten Geflecht, Bachs 15 kontrapunktische Studien zu einem bezwingenden Bogen. Der gipfelt in einer überzeugenden eigenen Komplettierung des unvollendeten letzten Contrapunctus. Warum die Deutsche Grammophon dem Hörenden nach dem fünften einen völlig unnötigen CD-Wechsel aufzwingt, bleibt ihr Geheimnis.
Die Strenge, mit der Trifonov sich der „Kunst der Fuge“ nähert, wirkt wie ein bewusster Kontrast zur sehr persönlichen Sicht auf die Musik der Bach-Familie. „The Art of Life“ nennt Trifonov sein Album. War Johann Sebastian tatsächlich ein so rundum glücklicher, sich auf die Kunst des Lebens verstehender Familienmensch, wie Trifonov im Booklet mutmaßt? Wer die Musik dieser Musiker-Familie so vollendet erlebt, ist geneigt, genau das zu glauben.
BACH: The Art of Life
Werke von Johann Christian, Wilhelm Friedemann, Carl Philipp Emanuel, Johann Christoph Friedrich und Johann Sebastian Bach
Daniil Trifonov, Klavier
Label: Deutsche Grammophon
Sendung: "Piazza" am 20. November 2021 ab 8:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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