Der kanadische Dirigent Yannick Nézet-Séguin ist ein Superstar – er leitet die New Yorker Met und das Philadelphia Orchestra. Dass Nézet-Séguin das Mainstream-Repertoire draufhat, versteht sich von selbst. Für seine Offenheit und Neugier spricht aber, dass er in Philadelphia zuletzt Symphonien einer heute vergessenen Komponistin aufgenommen hat: Florence Price lebte von 1887 bis 1953 – und hat sich als erste Afroamerikanerin nationale Anerkennung erkämpft. Zwei ihrer vier Symphonien sind jetzt als rein digitales Album bei der Deutschen Grammophon erschienen. Eine spannende Hörerfahrung!
Bildquelle: Deutsche Grammophon
Der CD-Tipp zum Anhören
"Ich habe zwei Handicaps: mein Geschlecht und meine Hautfarbe. Ich bin eine Frau – und habe schwarzes Blut in meinen Adern." So hat sich die Komponistin Florence Price 1943 dem berühmten Dirigenten Serge Koussevitsky in Boston angedient – in der Hoffnung, er würde eine ihrer Symphonien aufführen. Der aber hat sie wie so viele andere kalt abblitzen lassen. Späte Genugtuung verschafft ihr jetzt Yannick Nézet-Séguin mit seinem Philadelphia Orchestra – der Pultstar hat genau das richtige Feeling für die wehmütigen Melodien von Florence Price. In ihrer Ersten Symphonie hat sie sich deutlich am großen Vorbild Dvořák und seiner Neunten Symphonie "Aus der Neuen Welt" orientiert. Wie in Dvořáks Neunter eröffnet Price den langsamen Satz mit feierlichen Choral-Klängen. Die Blechbläser des Philadelphia Orchestra können hier ihre ganze Klangkultur prachtvoll entfalten.
Florence Price war die erste Afroamerikanerin, die sich als Komponistin Klassischer Musik in den USA durchsetzen konnte. Eine außergewöhnliche Frau, die in Little Rock / Arkansas aufwächst, in Boston studiert, sich nach Rassenunruhen in Chicago niederlässt und von ihrem gewalttätigen Mann scheiden lässt – die Kinder bringt sie mit musikalischen Nebenjobs durch. Ihre Erste Symphonie macht bei der Weltausstellung 1933 in Chicago Furore. In ihrer Dritten wagt Price harmonisch mehr – und scheut auch herzzerreißendes Pathos nicht, tief verwurzelt in der Tradition der Spirituals.
Dieses Album wird lieben, wer …
… gern mal auf Entdeckungsreise abseits des Mainstreams geht.
Dieses Album lohnt sich, weil …
… man da eine starke kompositorische Stimme einer außergewöhnlichen Frau kennenlernen kann.
Dieses Album hat gefehlt, weil …
… sich hier erstmals ein Stardirigent und ein Spitzenorchester der Symphonik von Florence Price angenommen haben.
Dieses Album ist ein Hörgenuss, weil …
… Yannick Nézet-Séguin genau das richtige Feeling für die wehmütigen Melodien und den rhythmischen Groove dieser Musik hat.
Faszinierend exotisch sind die Scherzo-Sätze in beiden Symphonien. Die hat Florence Price als Juba Dances gestaltet – Stampftänze der Sklaven in den Südstaaten, denen man die Verwendung von Trommeln verboten hatte. Nézet-Séguin groovt sich da wunderbar ein in die mitreißenden Rhythmen der Price. In der Dritten Symphonie kippt so ein Juba Dance plötzlich in eine Habanera.
Eine große Sehnsucht spricht aus dieser Musik, die in ihrem Stilmix und ihrer perkussiven Kraft durch und durch amerikanisch ist. Nézet-Séguin holt mit seinem fantastischen Orchester das Optimale aus den Partituren heraus. Die starke Stimme der Florence Price sollte auch von anderen Stardirigenten und Spitzenorchestern gehört werden – ein Anfang ist gemacht!
Florence Price:
Symphonien Nr. 1 e-Moll und Nr. 3 c-Moll
Philadelphia Orchestra
Leitung: Yannick Nézet-Séguin
Label: Deutsche Grammophon (digitale Veröffentlichung)
Sendung: "Piazza" am 18. September 2021 ab 8:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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