Der französische Dirigent François-Xavier Roth ist ein kreativer und innovativer Kopf – zwischen Alter und Neuer Musik baut er spannende Programme. Anfang April debütiert der Kölner Opernchef beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Sein 2003 gegründetes Orchester Les Siècles ist so flexibel wie Roth selber: Je nach Repertoire wechselt es zwischen historischen und modernen Instrumenten. Zum 150. Todestag von Hector Berlioz haben die Franzosen wegweisende Stücke des Klangpioniers eingespielt – natürlich im Originalklang!
Bildquelle: Harmonia Mundi
Das Album der Woche zum Anhören
Keine weibliche Sirene beschwört Hector Berlioz' "Sommernächte" in dieser Neueinspielung – sondern ein kernig-viriler Bariton. Stéphane Degout ist mit seinem herben, rauen Timbre ein idealer Interpret für "Les Nuits d’été" von Hector Berlioz, hatte doch schon der Komponist selbst diese Alternative vorgesehen. Degout sorgt in dem morbiden Liederzyklus nach Gedichten von Théophile Gautier für eine neue Hörerfahrung – voller Leidenschaft und Schmerz etwa in der surrealen Totenklage "Le Spectre de la rose – Der Geist der Rose".
Dieses Album muss man haben …
… weil die Orchesterfarben von Berlioz auf Originalinstrumenten viel besser zur Geltung kommen.
Dieses Album hat gefehlt …
… weil es kaum Aufnahmen der Lieder mit männlichen Protagonisten gibt.
Dieses Album lohnt sich …
… weil es ein brillanter Auftakt zum Berlioz-Gedenkjahr ist – und auch danach noch Bestand haben wird.
Dieses Album ist ein Hörgenuss …
… weil so großartige Solisten wie Tabea Zimmermann und Stéphane Degout mitwirken.
Mit seiner delikaten Orchestrierung der Klavierfassung hat Berlioz quasi nebenbei die Tradition des französischen Orchesterlieds begründet. Degout fasziniert mit seinem markanten Tonfall, seinem großen Stimmumfang und seiner wunderbaren französischen Diktion: Unnachahmlich nasal klingen seine Vokale – und die Stimme tanzen lassen kann er auch. Les Siècles unter François-Xavier Roth liefern mit ihrem luziden Klang und rhythmischen Esprit die perfekte Begleitfolie für Degout.
Größer besetzt ist das Originalklang-Orchester dann in der experimentellen Symphonie "Harold en Italie – Harold in Italien". Mit dem melancholischen Antihelden aus dem Epos von Lord Byron hat sich Berlioz identifiziert – und die "Stimme" des Außenseiters Harold einer solistischen Bratsche anvertraut, die sein Thema zunächst nur mit Harfen-Begleitung vorträgt. Tabea Zimmermann spielt das traumhaft schön, mit schlankem Ton, rund, warm und innig. Harold zieht sich in die Isolation der Bergwelt zurück, wo er einem Pilgerchor beim Abendgebet begegnet. Berlioz zoomt den Aufmarsch aus der Ferne nah heran und langsam wieder weg – Roth inszeniert diesen revolutionären Raumklang-Effekt wie eine filmische Auf- und Abblende.
Mit selbstloser Noblesse fügt sich Tabea Zimmermann in das symphonische Konzept von Berlioz ein. Im furiosen Finale verschwindet das Soloinstrument dann ganz. In dieser Briganten-Orgie feuert Roth seine Musiker zu Tempo, Verve und Brillanz an. Mit ihrem historischen Sound ist diese erste wichtige Veröffentlichung zum Berlioz-Gedenkjahr ein echter Coup geworden.
Hecor Berlioz:
"Harold en Italie"
"Les Nuits d'été"
Tabea Zimmermann (Viola)
Stephane Degout (Bariton)
Les Siècles
Leitung: François-Xavier Roth
Label: Harmonia Mundi
Sendung: "Piazza" am 23. März 2019, 08:05 Uhr auf BR-KLASSIK