Der Begriff "Kunstlied" kann in die Irre führen. Denn Komponisten wie Franz Schubert suchten in ihren Liedern immer wieder Inspiration beim Volkslied. Und so ist die größte Herausforderung für klassische Sängerinnen und Sänger, trotz aller Kunst natürlich zu klingen. Dem österreichischen Bariton Georg Nigl ist das auf seinem neuen Album ganz besonders gut gelungen.
Bildquelle: alpha classics
Der CD-Tipp zum Anhören
Er hat ein unverwechselbares Timbre. Wer den österreichischen Bariton Georg Nigl einmal gehört hat, vergisst diese Stimme nicht. Und ehe man eigentlich so recht weiß, ob man sie nun mag oder nicht, hat sie einen schon berührt. Das macht dieses Album so ungewöhnlich: Georg Nigl und seine Klavierbegleiterin Olga Pashchenko erzeugen eine Intimität, die einen emotional erwischt.
Und genau darauf zielen ja Schuberts Lieder. Nicht auf die große Bühne gehört diese Musik, sondern in einen intimeren Rahmen – seien es nun bekannte Lieder wie die "Forelle" oder eher unbekannte wie die "Sommernacht". Schubert schrieb sie für seine Freunde und Freundinnen, und im Freundeskreis, bei den sogenannten Schubertiaden, wurden sie erstmals gesungen.
Nur – diese Intimität muss man erstmal zulassen. Viele Sängerinnen und Sänger, die hauptsächlich für die Opernbühne arbeiten, tun sich schwer damit. Georg Nigl erzeugt durch sein unverwechselbar leichtes Timbre eine ungewöhnliche, manchmal ungewohnt klingende Nähe. Oft erzählt er seine Geschichten quasi mit halber Stimme – aber immer mit voller emotionaler Beteiligung. Deshalb wirkt diese Intimität so natürlich und glaubwürdig. Es sind gewissermaßen beiseite gesprochene, vertrauliche, aber dafür umso intensivere Botschaften, die er mitteilt. Deshalb gehen sie unter die Haut.
Dieses Album wird lieben, wer …
… sich gern von einer unverwechselbaren Stimme berühren lässt.
Dieses Album ist ungewöhnlich, weil …
… sich Gegenwart (Rihm) und Vergangenheit (Beethoven und Schubert) perfekt ergänzen.
Dieses Album ist ein Hörgenuss, weil …
… den Tonmeistern dieser CD-Produktion zudem ein fantastisch ausdifferenziertes, unmittelbar anspringendes Klangbild gelungen ist.
Dieses Album hat gefehlt, weil …
… Georg Nigl zeigt, wie lebendig und berührend die oft totgesagte Gattung Lied ist.
Wodurch klingt Nigls Stimme so besonders? Ungewöhnlich hell ist sie, fast tenoral. Aber, und vielleicht macht das ihren besonderen Zauber aus, es eben doch ein Bariton, keine hohe, sondern eine mittlere Männerstimme. Bei aller Leichtigkeit klingt sie warm. Und vor allem: völlig mühelos. Gerade wegen ihrer Helligkeit setzt sie sich ohne größeren Kraftaufwand durch gegen Flügel oder Orchester. Nigls leichter, ganz vorn sitzender Bariton trägt – ohne Druck oder besondere Kraftanstrengung. Künstliches Abdunkeln hat er nicht nötig. Dadurch erinnert sie an eine leider in Vergessenheit geratene Gesangskultur: So klangen Männerstimmen oft in der Zeit der frühen Plattenaufnahmen zwischen den 1920er und 50er Jahren, vor allem in Frankreich.
Bei Schubert und in Beethovens Liederzyklus "An die ferne Geliebte" lässt sich Nigl durch die Pianistin Olga Pashchenko auf einem Hammerflügel begleiten. Diese alten, in Schuberts und Beethovens Zeit gebräuchlichen Instrumente klingen heller, weniger voluminös als ein moderner Steinway. Die perfekte Ergänzung also für Nigls auf Intimität setzende Lied-Ästhetik.
Doch Nigl belässt es nicht bei wohliger Nostalgie. Eigentlich ist er ein Fan der Moderne – international berühmt wurde er in der Titelrolle von Alban Bergs "Wozzeck", für die er an der Mailänder Scala gefeiert wurde. Nigl liebt nicht zuletzt die lebenden Komponisten. Einer der berühmtesten, Wolfgang Rihm, hat 2017 für Nigl eine Reihe von Liedern auf Texte des Barockdichters Andreas Gryphius komponiert. Und hier lässt sich Nigl, passend zu Rihms Klangvorstellung, von einem modernen Steinway begleiten.
Wenn sich nach der Leichtigkeit der Schubert- und Beethoven-Lieder plötzlich diese so viel dunklere Klangwelt öffnet, dann hat das eine starke Wirkung. Am Schluss kehren Georg Nigl und seine Klavierpartnerin Olga Pashchenko zu Schuberts heller Melancholie zurück. Für mich eines der schönsten und berührendsten Alben des vergangenen Jahres.
"Vanitas"
Lieder von Franz Schubert, Ludwig van Beethoven und Wolfgang Rihm
Georg Nigl (Bariton)
Olga Pashchenko (Hammerklavier und moderner Flügel)
Label: alpha classics
Sendung: "Piazza" am 2. Januar 2021 ab 8:05 Uhr auf BR-KLASSIK