Er gehört zu den größten Pianisten der Welt: Grigory Sokolov. Der 70jährige Russe ist eine Legende – und ein ziemlich eigenwilliger Künstler, total konzentriert aufs Klavier: Praktisch keine Interviews, keine Virtuosen-Show, keine Konzerte mit Orchester, nur Soloabende. Je größer die Zurückhaltung, desto größer der Kult: Die Klavierfans lieben und verehren ihn. Nun ist ein neues Sokolov-Album erschienen – natürlich live aufgenommen.
Bildquelle: Deutsche Grammophon
Der CD-Tipp zum Anhören
Manche können das: alles gleichzeitig machen. Je digitaler die Welt wird, desto mehr Unterschiedliches tun wir auf einmal. Serien schauen und chatten, während der Videokonferenz Mails schreiben, Urlaub und dabei schnell noch bisschen was arbeiten. Permanent sind wir an tausend Dingen gleichzeitig dran. Manche haben Spaß am Multitasking, manche leiden drunter – manche tun auch das gleichzeitig. Klassische Musiker sind längst nicht mehr nur Musiker, sondern auch Musikvermittler, Social Media Manager, Gegenwartsanalytiker und am besten noch Hobby-Virologen. Umso radikaler wirkt da eine Figur wie Grigori Sokolov. Er ist der totale Single Tasker unter den Pianisten. Sokolov will eine Sache machen, und die soll richtig gut sein. Nein – mehr als das: vollkommen.
Ein Pianist, der sich aufs Klavier konzentriert: Was banal sein müsste, wirkt heute verschroben. Der weglässt, was ablenkt. Keine Interviews gibt. Nicht mehr mit Orchester spielt, weil da zu viele Dinge passieren, die er nicht kontrollieren kann. Und weil die große virtuose Geste eh nur vom Wesentlichen ablenkt. Sokolov flirtet nicht mit dem Publikum, schaut nur auf die Tasten, sitzt am Steinway wie ein Fels in der Brandung. Letztes Jahr ging über Salzburg ein Sommergewitter nieder, Wasser drang ins Große Festspielhaus ein und es regnete aus der Decke. In den vorderen Reihen sprang das Publikum auf, es gab Gemurmel und Gedrängel – aber Sokolov spielte einfach weiter, völlig versunken in die Musik. Als sich das Management bei ihm während der Pause entschuldigte, fragte er: Wofür? Er hatte es nicht bemerkt.
Dieses Album hört man besten bei…
… absoluter Stille. Einfach zuhören, absolutes Singletasking lohnt sich!
Dieses Album hat gefehlt, weil…
… jedes Sokolov-Programm hörenswert ist.
Dieses Album lohnt sich, weil…
… sogar die ganz wenigen falschen Töne und die kleinen Nebengeräusche im Saal die besondere Aura eines Sokolov-Konzerts transportieren.
Sokolovs Konzerte folgen einem festen Ritual. Das Hauptprogramm ist lang, die Zugaben (immer sechs) dauern fast nochmal so lang. Ein einziges Programm spielt er dann ein ganzes Jahr lang an verschiedenen Orten, aber nur in Europa (längere Reisen würden ja ablenken). Und weil alle Energie in die Musik fließt, erreicht Sokolov eine Vollkommenheit und zugleich eine Lebendigkeit, die derzeit unübertroffen ist. Denn als Künstler ist er zwar ein Singletasker, weil er nur Musik macht. Beim Musizieren selbst aber ist er von einer Vielfältigkeit, einem Ideenreichtum, einer Spontaneität, die einfach nur atemberaubend sind. Keiner holt so differenziert verschiedene Farben heraus, macht die Gegen- und Mittelstimmen so deutlich hörbar, kann so viele Anschlagsnuancen gleichzeitig aufleuchten lassen. Sokolov legt Strukturen offen – und erzählt dabei gleichzeitig immer eine Geschichte. Oder auch mehrere. Er macht Ambivalenzen spürbar. Bei Schubert etwa: Schmerz und Glück. Bei Brahms: Melancholie und Wohlklang. Bei Beethoven: Ernst und Spiel.
Sein neues Album dokumentiert das Programm des letzten Jahres. Alles Livemitschnitte. Aufgenommen in verschiedenen Sälen, denn wo immer es sich anbietet, wird mitgeschnitten. Sokolov wählt dann die schönste Version aus. Dass in diesen drei Stunden Musik auch ein paar falsche Töne drin sind, wirkt geradezu stolz: Nichts wäre leichter und normaler, als sowas schnell zu korrigieren. Sokolov verschmäht das. Ist ja auch wirklich völlig unwichtig. Die Perfektion, nach der er sucht, ist viel großartiger: Ihm geht es um Ausdruck, den puren Ausdruck, den der Musik. Nicht um private Befindlichkeiten. Bei der frühen Beethovensonate, der dritten, mit der das Recital losgeht, wirkt dieser Kunstradikalismus fast allzu ernst. Man hört alles – aber es fehlt der Humor. Umso großartiger dann der Rest. Herrlich skurril die Beethoven-Bagatellen, fast beängstigend ausdrucksstark die Klavierstücke von Brahms. Und die Zugaben sind dann, wie so oft bei Sokolov, das Beste. Existenziell bei Schubert, voller Witz bei Rameau. Eine Einladung, mal das Smartphone wegzulegen – und nur eine einzige Sache zu machen: zuhören.
Ludwig van Beethoven:
Klaviersonate Nr. 3 C-Dur op. 2 Nr. 3; Bagatellen op. 119
Johannes Brahms:
Klavierstücke op. 118 Nr. 1-6 & op. 119 Nr. 1-4; Intermezzo op. 117 Nr. 2
Franz Schubert:
Impromptu D. 935 Nr. 2; Allegretto D. 915
Jean-Philippe Rameau:
"Les Sauvages"; "Le Rappel des oiseaux"
Sergej Rachmaninow:
Prélude op. 32 Nr. 12
Claude Debussy:
Prélude Heft 1 Nr. 6 "Des pas sur la neige"
& Bonus-DVD:
Konzertmitschitt aus dem Auditorium Giovanni Agnelli del Lignotto – Turin 2017
Grigori Sokolov (Klavier)
Label: Deutsche Grammophon
Sendung: "Piazza" am 01. August 2020, 08:05 Uhr auf BR-KLASSIK