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Album der Woche – Jean Sibelius Kullervo

Der Name Thomas Dausgaard ist in Musikerkreisen zwar ein fester Begriff, trotzdem ist der dänische Dirigent in der breiten Klassikwelt nicht ganz so prominent wie Yannick Nézet-Séguin, Theodor Currentzis oder andere Pultstars. Leider, denn Dausgaard dirigiert vieles, und das Viele immer gut. Bartok, Sibelius, Dvorak. Mahler, Nielsen, Rachmaninow. Thomas Dausgaard macht sich für zeitgenössische Werke stark und hat auch bei Bach’schem Originalklang keine Berührungsängste. Ein besonderes Faible und ein besonderes Händchen hat der Däne Dausgaard für die großen skandinavischen Kompositionen.

CD-Cover Kullervo | Bildquelle: Hyperion

Bildquelle: Hyperion

"Wir erkennen diese Töne als unsere eigenen, selbst wenn wir sie so noch nie gehört haben", stand am Tag nach der Premiere in der Zeitung. Was da erklungen ist, am 28. April 1892 in der Aula der Universität von Helsinki, hat in der Tat alle überrascht und verwirrt, vor allem aber begeistert. Von der "Geburtsstunde der finnischen Musik" war schnell die Rede und auch Sibelius selbst sah sich mit seiner sinfonischen Dichtung "Kullervo" an der Speerspitze zur nationalen Eigenständigkeit: "Ich arbeite an einer neuen Sinfonie, völlig im finnischen Geist."

Kurz und bündig

Dieses Album wird lieben, …
... wer ein Faible für Skandinavien hat.

Dieses Album muss man haben, …
… weil es so viel über die finnische (Musik)Geschichte verrät.

Dieses Album hört man am besten ...
... mit freiem Blick auf einen tiefblauen See und endlose Wälder.

Begeistert von Wagner und Bruckner

Von der nationalen Selbstbestimmung Finnlands ließ sich Ende des 19. Jahrhunderts de facto allerdings nur träumen, zu dominant war die zunehmend gewaltsame russische Übermacht: es waren aufgewühlte, konfliktreiche, aber auch spannende Zeiten um die damalige Jahrhundertwende. Der junge Sibelius kommt gerade aus Wien vom Studium zurück. Wagners "Tristan" hat er dort an der Hofoper gehört, auch Bruckners Sinfonien faszinieren ihn. Und das Finnisch des schwedischen Muttersprachlers Jean Sibelius ist mittlerweile so gut, dass er das Nationalepos "Kalevala" im Original lesen kann. Eben auch jene düster-tragische Episode über den Protagonisten Kullervo, von den Eltern verlassen, der Pflegefamilie misshandelt, auf der Suche nach einer Frau. Unwissend lässt er sich mit seiner ihm unbekannten Schwester ein, das Drama ist perfekt.

Schmelztiegel des europäischen fin-de-siècle

Jean Sibelius komponiert darüber ein Stück, das er "Sinfonie für Sopran und Bariton, Orchester und Männerchor" nennt. Damit sind zwar die Mitwirkenden genannt, "Kullervo" aber längst nicht erfasst. Mal klingt es tatsächlich nach Sinfonie, innerhalb von wenigen Takten wächst es sich zum großen Chorwerk aus, sind die beiden Solisten beteiligt, entstehen binnen Sekunden opernhafte Szenen. Ein Unikum, voller Energie und Urwüchsigkeit, voller Eigenwilligkeit und doch ein Schmelztiegel des europäischen fin-de-siècle.

Dem dänischen Dirigenten Thomas Dausgaard gelingt es mit seinem BBC Scottish Symphony Orchestra und den Männern von "Lunds Studentsångare" in jedem Takt wie selbstverständlich eine Atmosphäre von nordischer Archaik zu erzeugen. Chor und die beiden hervorragenden Solisten, Helena Juntunen und Benjamin Appl, bestechen nicht nur durch klare finnische Aussprache, sondern durch die nötige stimmliche Dramatik und Gestaltungskraft. Die Einspielung ist sängerisch und orchestral aus einem Guss und macht deutlich, welch packende Musik der junge Jean Sibelius da komponiert hat. Schließt man kurz die Augen und träumt sich zurück, nach Helsinki 1892, dann kann man die damalige Begeisterung gut nachvollziehen: "Sibelius hat mit Kullervo seine eigene Stimme gefunden, und mit ihr erschafft er seine eigene Musik in unserer eigenen Musik."

Jean Sibelius: Kullervo

BBC Scottish Symphony Orchestra
Helena Juntunen (Sopran)
Benjamin Appl (Bariton)

Leitung: Thomas Dausgaard

Label: hyperion

Sendung: "Piazza" am 3. August 2019 ab 08:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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