Max Richter gehörte lange Zeit zu jenen Komponisten, deren Musik fast jeder schon mal gehört hat, dessen Namen aber kaum jemand kennt. Das hat sich geändert: Spätestens seit er auch für Hollywood-Blockbuster wie "Werk ohne Autor" oder "Ad Astra” die Musik komponiert hat, ist er auch einem breiten Publikum ein Begriff. Dabei war Richter schon lange zuvor eines der prominentesten Aushängeschilder der sogenannten "Neoklassik". Jener Musikrichtung, die von Kritikern gerne belächelt wird, aber den Nerv vieler heutiger Hörer trifft. Nun hat Max Richter sein Album "Exiles" herausgebracht.
Bildquelle: Deutsche Grammophon
Der CD-Tipp zum Anhören
Darf klassische Musik politisch sein? Und kann sie das überhaupt? Für Max Richter ist die Antwort ein eindeutiges "Ja, unbedingt!". Schon in seinen beiden letzten Alben "Voices" ging es ihm neben der Musik auch dringend um Fragen des globalen Miteinanders und der persönlichen Verantwortung – etwa, wenn er in seiner Musik einen Ausschnitt der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vorlesen ließ. Und auf seinem Album "Memory House" setzte er sich mit dem Kosovo-Konflikt auseinander, auf "Blue Notebook" mit dem Irak-Krieg. "Activist music" nennt Richter das selbst. Und die berührt und macht betroffen. Und Betroffenheit war es auch, die ihn nun zu seinem neuen Album "Exiles" inspiriert hat.
Fast alle kennen das erschütternde Foto des kleinen zweijährigen Alan Kurdi. Jenes syrischen Flüchtlings, dessen Leichnam nach Ertrinken an der türkischen Mittelmeerküste angeschwemmt wurde. Ein Bild, das längst zur Foto-Ikone geworden ist und stellvertretend für das Leid und Elend abertausender Flüchtlinge aus Kriegs- und Krisengebieten steht. Für Richter war es der Ausgangspunkt für "Exiles", das in einer 33-minütigen Version den Mittelpunkt des gleichnamigen neuen Albums bildet.
Dieses Album wird lieben, wer …
… sich auch von melancholischer Musik berühren und hypnotisieren lässt.
Dieses Album muss man haben, weil …
… es momentan wie kaum ein anderes Album inhaltlich brandaktuell ist.
Dieses Album lohnt sich, weil ...
… es neben tollen neuen Stücken auch die Highlights anderer Alben in frischen Einspielungen bietet.
Im Stück "Exiles" dreht sich alles um eine Kernfigur aus vier Sechsvierteltakten, die mantraartig wiederholt wird und symbolisch für das Unterwegssein steht. Darüber wogen zarte und verletzliche Streichermelodien, die im Lauf der Zeit immer mehr zunehmen, bis zum Ende hin alles in einer euphorischen Schluss-Apotheose mündet – gleichsam klanggewordene Hoffnung und Aufbruchstimmung. Max Richters musikalischer Beitrag zur weltweiten Flüchtlingsbewegung.
Ergänzt wird das Album durch vier neu arrangierte Orchesterversionen einiger seiner bekanntesten früheren Werke. Darunter seine vielleicht berühmteste Komposition: "On the Nature of Daylight", bekannt aus Filmen und Serien wie "Arrival", "The Handmaid’s Tale" oder "Shutter Island". Und nicht zuletzt das bisher unveröffentlichte "Flowers of Herself". Eingespielt hat Max Richter das Album Ende 2019 in Tallinn mit dem "Baltic Sea Philharmonic" Orchester unter der Leitung von Kristjan Järvi. Dabei steht das Orchester mit seinen west- und osteuropäischen Musikern selbst symbolisch für eine Gemeinschaft, die Grenzen überwindet.
Unabhängig von der Frage wie politisch Musik sein darf, ist "Exiles" ein sehr hörenswertes Album geworden. Es ist in weiten Strecken die klanggewordene Melancholie eines authentischen Ausnahmekomponisten, der sich nicht scheut die brennenden gesellschaftlichen Fragen unserer Zeit mit der emotionalen Textur seiner Musik zu verweben. Es mag Leute geben die der Meinung sind, dass dies in der Musik nichts zu suchen habe. Aber mit Hinblick auf die aktuellen Entwicklungen in Afghanistan kann sein neues Album "Exiles" eigentlich kaum aktueller sein.
Baltic Sea Philharmonic
Leitung: Kristjan Järvi
Label: Deutsche Grammophon
Sendung: "Piazza" am 11. September 2021 ab 8:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (0)