Von den "Années folles" – den verrückten Jahren – ist die Rede, wenn es um das Paris der 20er Jahre geht. Die Atmosphäre nach dem Leid des ersten Weltkriegs war geprägt von einer kreativen Aufbruchsstimmung, die Tradiertes in Frage stellte und neue Ausdrucksformen in Musik, Kunst und Film befördert hat. Musikalisch nachvollziehen kann man das mit der aktuellen CD des Berliner Notos Quartetts. "Paris Bar" heißt das Album mit Kammermusik von Jean Françaix, Alexandre Tansman und László Lajtha.
Bildquelle: BR / Sony Classical
Der CD-Tipp zum Anhören
Das CD-Cover signalisiert sofort: Das Setting ist nostalgisch und dann auch wieder up to date. Die vier Musiker des Notos Quartetts posieren ohne Instrumente in modernem Outfit mit kleinen Reminiszenzen an die 20er Jahre vor einem Café, mit roten Leuchtbuchstaben benannt als "Paris Bar". Gegenwart und Rückblick sind in diesem Foto eingefangen. Der Albumtitel damit auch.
Die Musik führt ins Paris der 20er Jahre, in die damalige Partystadt Europas. Junge Künstlerinnen und Künstler strömten in die Metropole an der Seine, getrieben von optimistischer Rastlosigkeit, Abenteuerlust und Experimentierfreude. Auch die drei Komponisten Jean Françaix, Alexandre Tansman und László Lajtha lebten zeitweise in Paris. Ihre vom Notos Quartett gut ausgewählten Stücke für Klavierquartett sind geprägt von der dort herrschenden multikulturellen Vielfalt. Es ist eine Musik voller Esprit. Sie klingt charmant, witzig und originell.
Das Divertissement von Jean Françaix entfaltet eine überwiegend heitere Stimmung. Auch Alexandre Tansmans Suite-Divertissement wird dem Titel gerecht. In den kurzen unterhaltsamen Charakterstück-Sätzen verbindet er volksmusikalische Anklänge an sein Heimatland Polen mit französischem Flair und barocken Formen.
Dieses Album muss man haben, weil …
… man Musik von Laszlo Lajtha entdecken kann.
Dieses Album lädt ein zum …
… Eintauchen in die Années folles.
Dieses Album führt bei Überdosis zu …
… imaginärer Paris-Sehnsucht.
Eine Entdeckung auf der CD ist die Ersteinspielung des Klavierquartetts von László Lajtha. Geboren in Budapest, gilt Lajtha neben Béla Bartók und Zoltán Kodály als bedeutendster ungarischer Komponist in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Es war Bartók, der Lajtha nahelegte, nach Paris zu gehen, wo er schon vor dem ersten Weltkrieg leidenschaftlich in die Musikwelt der Zeit eintauchte. Sein groß angelegtes, gut halbstündiges Klavierquartett komponierte Lajhta 1925. Es ist ein unglaublich reiches und intensives Stück, das mit einem langsamen Satz beginnt und dann in erregte Ausdrucksfülle mündet. Das Notos Quartett folgt dieser dichten Struktur und den immer wiederkehrenden Gefühlsexplosionen voller Energie und dabei unglaublich präzise. Insbesondere der Klavierpart ist äußerst virtuos und orchestral dimensioniert. Wie wunderbar symbiotisch das Tasteninstrument mit den drei Streichern ausbalanciert ist, zeigt, wie gut die vier Musiker aufeinander eingespielt sind.
Diese CD bietet demnach tolle und neu entdeckte Kammermusik, gespielt mit unbändiger Freude und auf höchstem spieltechnischen Niveau. "Paris Bar" sei für sie ein "imaginärer Ort", der den Geist der wilden 20er Jahre wiederspiegelt, schreibt das Notos Quartett im Booklet. Dieser imaginären Ortserkundung folgt man mit diesem Album begeistert.
Notos Quartett – "Paris Bar"
Jean Françaix:
Divertissement
Alexandre Tansman:
Suite-Divertissement
László Lajtha:
Klavierquartett op. 6
Notos Quartett
Label: Sony Classical
Sendung: "Piazza" am 30. April 2022 ab 8:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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