Wenige Musikerinnen und Musiker können auf eine so lange Karriere zurückblicken wie die US-amerikanische Pianistin Ruth Slenczynska. Sie feierte im Januar ihren 97. Geburtstag und spricht selbst mit Blick auf ihr neues Album von einem "unglaublichen Projekt": "Wer hat jemals gehört, dass eine Pianistin in meinem Alter ein weiteres Album aufnimmt?". Die CD mit dem Titel "My Life in Music" hat Ruth Slenczynska beim Label Decca eingespielt. Mit dabei sind Stücke von Sergej Rachmaninow, als dessen letzte lebende Schülerin sie gilt.
Bildquelle: Decca
Der CD-Tipp zum Anhören
Wie unvoreingenommen kann man Musik hören und Neuaufnahmen einordnen? Welche Rolle spielen Kenntnisse über das Drumherum und die Biographien Derjenigen, die diese Musik interpretieren? Solche Fragen habe ich mir sofort gestellt, als das aktuelle Album der 97-jährigen Ruth Slenczynska angekündigt wurde. Denn da ist zunächst von Beginn an ein unglaublicher Respekt vor diesem Unternehmen, eine Bewunderung gegenüber dieser Persönlichkeit, die auf ein außergewöhnliches Leben zurückblicken und Rachmaninow noch als ihren Lehrer bezeichnen kann.
Geboren wurde Ruth Slenczynska 1925 in Kalifornien als Kind polnischer Eltern. Bereits mit vier Jahren gab sie ihr ersten Konzert, mit fünf absolvierte sie ihren ersten Fernsehauftritt und mit sechs ihre erste Europa-Tournee. Doch diese Kindheit war alles andere als leicht. Denn hinter all diesem Erfolg stand ihr Vater, selbst ein bekannter polnischer Geiger und Leiter des Warschauer Konservatoriums. Er wurde im ersten Weltkrieg verwundet, emigrierte in die USA und setzte alles daran, seine begabte Tochter zu einer Starmusikerin zu machen.
Dieses Album lohnt sich, weil …
… eine Persönlichkeit ein starkes persönliches Statement formuliert.
Dieses Album hat gefehlt, weil …
… Ruth Slenczynska als eine der letzten Musikerinnen ihrer Generation musikalische Zeitzeugenschaft ablegen kann.
Dieses Album hört man am besten, wenn …
… man sich ein wenig zurückbeamen möchte ins 20. Jahrhundert.
Der extreme Stress führte dazu, dass sich Ruth mit 15 Jahren weiteren Auftritten verweigerte, Psychologie studierte, aber nie aufhörte zu spielen. Erst in den fünfziger Jahren konzertierte sie wieder, nahm zahlreiche Platten bei Decca auf und machte sich vor allem einen Namen als Chopin-Interpretin.
Das einstige Wunderkind Ruth Slenczynska hat unter anderem für Präsident John F. Kennedy und für Michelle Obama gespielt. Die Liste ihrer Lehrer liest sich wie ein Who is Who der Klavierwelt des 20. Jahrhunderts, darunter Artur Schnabel, Josef Hofmann und Alfred Cortot. All diese Begegnungen – etwa auch mit dem Komponisten Samuel Barber – haben die CD-Zusammenstellung inspiriert. Der Albumtitel "My Life in Music" ist damit kein pauschaler Verkaufsslogan, sondern gerechtfertigt motiviert.
Ruth Slenczynska spielt stellenweise sehr individuell, sehr frei in Artikulation und Duktus. Dabei gestaltet sie ihren Klang farblich überzeugend und nuanciert. Da mag und kann man punktuell über ein angemessenes Tempo etwa bei Chopins E-Dur-Etüde op.10 nicht wirklich diskutieren. Denn klar ist: Dieses Album ist eine sehr persönliche Rückschau einer 97-jährigen Zeitzeugin und außergewöhnlichen Musikerin, aber auch ein leidenschaftliches Statement dafür, wie lebensrelevant Musik-Entdecken, -Spielen und Vermitteln bleibt und sein kann.
Ruth Slenczynska – "My Life in Music"
Werke von Sergej Rachmaninow, Edvard Grieg, Johann Sebastian Bach, Samuel Barber und Claude Debussy
Ruth Slenczynska (Klavier)
Label: Decca
Sendung: "Piazza" am 22. Januar 2022 ab 8:05 Uhr auf BR-KLASSIK
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