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Album der Woche – Christian Thielemann dirigiert Schönberg Die "Gurre-Lieder" aus Dresden

Welches Werk im Repertoire der klassischen Musik hat die größte Besetzung? Gustav Mahlers Achte, die sogenannte "Symphonie der Tausend"? Oder doch die "Gurrelieder" von Arnold Schönberg? Kommt drauf an, wie viele Streicher im Orchester sitzen und wie groß die Chöre besetzt sind. Laut wirds auf jeden Fall. Aber Schönbergs "Gurrelieder" geben dem Riesenorchester auch dankbare Gelegenheit für Klangzauberei. Gerade ist eine Neuaufnahme der selten gespielten "Gurrelieder" mit Christian Thielemann erschienen.

Bildquelle: Profil Edition Günter Hänssler

Der CD-Tipp zum Anhören

Er unterschrieb Texte gern mit dem Pseudonym Jens Quer – eine Abkürzung von "jenseitiger Querkopf". Und das war er auch: Arnold Schönberg. In die Musikgeschichte eingegangen ist Schönberg, der jenseitige Querkopf, mit zwei explosiven Neuerungen: 1908 schrieb er seine ersten atonalen Werke. Kein Dur mehr und kein moll, keine Tonart. Man könnte auch sagen: alle Tonarten auf einmal. Und Anfang der Zwanziger Jahre dann der nächste Schritt: die Zwölftonmusik. Alle zwölf Töne sind gleichberechtigt, es lebe die Dissonanz! Schönberg war ein Revolutionär, aber, wie sich das für einen echten Querkopf gehört, ein komplizierter, nämlich: ein konservativer Revolutionär.

Mammutwerk eines konservativen Revoluzzers

Zeitlebens verehrte er Bach, Mozart, Beethoven, Brahms – und Wagner. Der junge Schönberg hatte im Stil von Brahms begonnen und wurde schnell glühender Wagnerianer. Aber einfach nachahmen war natürlich uninteressant - vielleicht könnte er, Schönberg, Wagner ja noch überwagnern? Im Jahr 1900 begann er, damals Mitte 20, ein Mammutwerk: die "Gurrelieder". Geschrieben für eine Mammutbesetzung: 5 Gesangssolisten, Sprecher, mehrere Chöre, 4 Harfen, 6 Pauken, 7 Posaunen, 8 Flöten, 10 Hörner, Tamtam, Ratschen, Rührtrommel, einige große eiserne Ketten und so weiter. Und natürlich soviele Streicher, wie dann noch auf die Bühne passen.

Liveaufnahme trotz Corona

Zu hören sind die Gurrelieder selten – naheliegend bei dem riesigen Aufwand. Ausgerechnet im Corona-Jahr 2020 ist, nur wenige Tage vor dem ersten Lockdown, ein bemerkenswerter Livemitschnitt entstanden. Christian Thielemann, der politisch und ästhetisch konservative Wagner-Verehrer, hat die Gurrelieder mit seiner Dresdner Staatskapelle am 10. März aufgeführt. Eigentlich sollten weitere Konzerte folgen. Damit hätte auch mehr Material zum Schneiden und Korrigieren bereitgestanden. Kleine Macken, wie sie nun mal zu einem Livekonzert gehören, sind also stehengeblieben, da ruckelt mal ein Pizzicato oder die Piccolo-Flöten sirren ein bisschen unsauber – Schönberg hat sich ja auch oft Sachen ausgedacht, die ziemlich unbequem zu spielen sind.

Maximaler Ausdruck ohne falsches Pathos

Trotzdem ist diese Aufnahme wirklich hörenswert. Zum einen wegen der guten Solisten. Camilla Nylund, die oft mit Thielemann in Bayreuth gesungen hat, ist eine höhensichere Tove. Steven Gould, Thielemanns Bayreuther Tristan, ist hier ein ebenso kraft- wie gefühlvoller Waldemar. Klasse auch die Waldtaube von Christa Mayer und der rhythmisch genau gestaltete Sprecherpart von Franz Grundheber. Wirklich großartig gelungen sind die symphonischen Orchesterpassagen. Thielemann spielt den jungen Schönberg mit maximaler Ausdrucksintensität, aber ganz ohne falsches Pathos – und die vom Gustav-Mahler-Jugendorchester aufgefüllte Dresdner Staatskapelle entfaltet ihre betörendsten Farben.

Kurz und bündig

Dieses Album lohnt sich, weil…
… Christian Thielemann dem Orchester betörende Farben und maximalen Ausdruck entlockt.

Dieses Album hört man am besten…
… mit guten Boxen, damit soviel wie möglich von der Klangpracht hörbar wird.

Dieses Album führt bei Üderdosis zum…
… ganz dringenden Bedürfnis, ein Werk mit noch größerer Besetzung zu komponieren. Oder einfach die Stille zu genießen.

Mit dem Rücken zum Publikum

Schönberg brauchte übrigens 11 Jahre für das Stück. Inzwischen war er vom Wagnerianer zum Atonalen geworden, aber sein Jugendwerk beendete er trotzdem. 1913 war die Uraufführung. Das Wiener Publikum war auf alles gefasst, auf schrägste Dissonanzen, wüsteste Neutönerei – und hörte stattdessen eine klangverliebte, rauschhaft spätromantische Musik. Riesenjubel – aber Schönberg, der sich ärgerte, dass immer nur seine Jugendwerke Erfolg hatten, verbeugte sich mit dem Rücken zum Publikum. Er war und blieb eben ein jenseitiger Querkopf.

Infos zur CD

Arnold Schönberg:
"Gurre-Lieder"


Stephen Gould (Tenor) – Waldemar
Camilla Nylund (Sopran) – Tove
Christa Mayer (Mezzosopran) – Waldtaube
Markus Marquardt (Bassbariton) – Bauer
Wolfgang Ablinger-Sperrhacke (Tenor) – Klaus-Narr
Franz Grundheber (Sprecher)
MDR Rundfunkchor Leipzig
Sächsischer Staatsopernchor Dresden
Gustav Mahler Jugendorchester
Staatskapelle Dresden
Dirigent: Christian Thielemann

Label: Profil Edition Günter Hänssler

Sendung: Piazza am 19. Dezember 2020 ab 8.05 Uhr auf BR-KLASSIK

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