Klassische Liederabende sind ein schlechtes Geschäft. Auf der Opernbühne verdienen Sängerinnen und Sänger viel mehr, obwohl sie viel weniger zu singen haben. Kostüme und Spaß gibt’s bei der Oper noch dazu. Liederabende dagegen machen den Künstlern vor allem unglaublich viel Arbeit. Aber die Faszination dieses Genres ist offenbar stärker als alle Hindernisse – jedenfalls gibt es erstaunlich viele junge Sängerinnen und Sänger, meist die besonders begabten, die sich dem Kunstlied widmen. Der junge Schweizer Bariton Äneas Humm ist einer von ihnen.
Bildquelle: Rondeau
Den CD-Tipp anhören
Wenn man einen Menschen zum ersten Mal sieht, hat man meist unwillkürlich eine bestimmte Erwartung, wie seine Stimme klingen wird. Und manchmal ist man dann ziemlich überrascht. Beim Schweizer Bariton Äneas Humm ist es mir so gegangen. Vor gut zwei Jahren habe ich ihn als Masetto in Mozarts "Don Giovanni" auf der Bühne gesehen, in Weimar war das. Ein großer, schlaksiger, jungenhafter Typ stand da vorn, 24 Jahre alt, eher noch jünger wirkend – und dann fing er an zu singen. Und ich begann zu staunen. So voluminös, so warm und so kraftvoll klang das, dass man zweimal hinsah. Aber kein Zweifel, er war's, der da sang.
Mittlerweile hat der junge Schweizer, der an der Juilliard School in New York studiert hat, eine verheißungsvolle Karriere gemacht. Baritone brauchen ja eigentlich viel Zeit. Für sein Alter ist Äneas Humm ungewöhnlich weit. Die Begeisterung fürs Singen hat er bei den Zürcher Sängerknaben entdeckt. Schon mit 18 gab er am Stadttheater Bremerhaven sein Bühnendebut. Kurz darauf sang er bereits eine Operetten-Titelrolle in Vaduz. Sogar eine Doku hat das Schweizer Fernsehen über ihn gedreht - unter dem schönen, aber irgendwie auch ein bisschen bedrohlich klingenden Titel "Ein Wunderkind wird erwachsen". Wenn Wunderkinder erwachsen werden, ist das ja oft eine gefährliche Schwelle – nicht immer werden die hohen Erwartungen erfüllt. Um Äneas Humm muss man sich wenig Sorgen machen.
Dieses Album hat gefehlt, weil…
…es lohendes, zu Unrecht wenig bekanntes Repertoire klug zusammenstellt.
Dieses Album wird lieben, wer…
…neugierig auf einen außergewöhnlich begabten jungen Sänger ist.
Dieses Album muss man haben, weil…
…Lieder unverzichtbar sind.
Dass er eine große Sängerlaufbahn vor sich hat, steht für mich fest. Nicht nur weil er geerdet, humorvoll und entspannt wirkt. Sondern vor allem, weil er seine stimmlichen Mittel erstaunlich sicher beherrscht. Das ist das erste, was mich an seinem Album "Embrace" beeindruckt hat: wie gut die Stimme im Körper sitzt, wie klug er die Register einsetzt, wie gekonnt er Kopf- und Bruststimme mischt. Und das nie als Selbstzweck, bloß um zu zeigen, was er stimmlich so drauf hat. Sondern immer im Dienst von Psychologie und Textausdeutung. Und damit bin ich bei der zweiten großen Stärke des Albums: der Zusammenstellung der Lieder unter dem Motto "Embrace" – also Umarmung.
Lieder von Fanny Hensel, die man hier als geniale Komponistin erlebt – zweifellos ebenso begabt wie ihr Bruder Felix Mendelssohn, nur, dass ihr als Frau viele Wege verschlossen waren. Dazu Lieder von Franz Liszt, der in diesem Genre chronisch unterschätzt wird. Lieder von Viktor Ullmann, der von den Nazis ermordet wurde. Und Lieder von Edvard Grieg auf deutsche Texte – selten zu hörende, tolle Entdeckungen fürs Repertoire. Alle mit einer Aufmerksamkeit für Zwischentöne und einer psychologischen Genauigkeit ausgeleuchtet, die ungewöhnlich sind.
Damit verbindet sich die dritte, für mich wichtigste Stärke des Albums: Äneas Humm versteht nicht nur, was er da singt und wie er es rüberbringen muss, er durchlebt es auch. Bei aller klugen Könnerschaft ist er keiner, der die Dinge aus sicherer Distanz andeutet. Sondern er macht sich die Gefühle mit Emphase zu eigen. Das ist ein schmaler Grat. Denn Lieder sind nun mal keine Miniopern, auch wenn das immer wieder fälschlich behauptet wird. Humm macht auch keine daraus, sondern dosiert absolut glaubwürdig und mit sichererem Feingefühl die Leidenschaft, mit der er sich in die verschiedenen Rollen und Situationen hineinlebt. Und achtet dabei genau auf den Personalstil: Fanny Hensel braucht eben mehr Diskretion als Edvard Grieg – und bekommt sie auch von Äneas Humm. Der am Flügel mit Renate Rohlfing viel mehr hat als bloß eine Begleiterin: Diese Liedpianistin ist eine Dialogpartnerin, die ihren Sänger auf Händen trägt. Äneas Humm – praktischerweise lässt sich dieser Name ziemlich gut merken. Es dürfte sich lohnen.
Äneas Humm – "Embrace"
Lieder von Fanny Mendelssohn-Hensel, Franz Liszt, Edvard Grieg und Viktor Ullmann
Äeneas Humm (Bariton)
Renate Rohlfing (Klavier)
Label: Rondeau
Sendung: "Piazza" am 15. Januar 2022 ab 8:05 Uhr auf BR-KLASSIK
Kommentare (0)