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Album der Woche – Nikolaus Harnoncourt dirigiert Schubert Sämtliche Symphonien – live aus Graz

Knapp fünf Jahre ist es her, dass Nikolaus Harnoncourt am 5. März 2016 im österreichischen Sankt Georgen starb. Die jetzt veröffentlichten Konzertmitschnitte der acht Sinfonien von Franz Schubert entstanden mehr als ein Vierteljahrhundert früher im Rahmen des von Harnoncourt gegründeten Grazer Festivals Styriarte. Jahrzehntelang schlummerten sie in den Archiven des ORF. Die späte Veröffentlichung dieser Live-Mitschnitte ist, man muss es so sagen, eine Offenbarung.

Bildquelle: ICA Classics

Der CD-Tipp zum Anhören

Harnoncourt hat auch später Schubert-Zyklen veröffentlicht, 1992 mit dem Royal Concertgebouw Orchestra, ab 2003 mit den Berliner Philharmonikern. Auch sie haben die Schubert-Rezeption, unser Bild und unsere Vorstellung von seiner Musik, nachdrücklich geprägt. Die unglaubliche Frische und Ausdruckskraft, die Spontaneität und Farbigkeit, die Harnoncourt Jahre zuvor in seiner Zusammenarbeit mit dem Chamber Orchestra of Europe in Graz erzielt hatte, konnte allerdings keine seiner späteren Einspielungen toppen oder auch nur erreichen. Wenn das verbrauchte Bild vom überspringenden Funken irgendwo zutrifft, dann ganz sicher auf diese Konzerte vom Juli 1988.

Kurz und bündig

Diese Box ist ein Hörgenuss, weil …
… sie Schuberts unglaubliche Kühnheit und Modernität mit seltener Kompromisslosigkeit offenlegt.

Diese Box hört man am besten immer wieder, weil …
… man dabei so unendlich viel über die Welt und das Leben erfährt.

Diese Box führt bei Überdosis zu …
… erhöhtem Rotweingenuss. Den braucht man, um diese emotionale Achterbahnfahrt auszuhalten.

Konsequenz und Radikalität

Man muss nicht mit jeder seiner Lösungen, jeder Betonung, dramatischen Zuspitzung oder Tempowahl einverstanden sein. Harnoncourt hätte das auch nie verlangt. Aber die Deutungen, die er damals anbot, sind von einer Konsequenz und immer wieder auch Radikalität, die in ihren großen Momenten, von denen es viele gibt, noch heute geradezu niederschmetternd wirken. In das so lange sorgsam gepflegte, gemütliche Schubert-Bild müssen sie hineingekracht sein wie ein Meteor in eine Biedermeier-Wohnstube.

Grenzen werden gesprengt

Nein, Schuberts Musik ist nicht harmlos. Sie sprengt Grenzen, balanciert über Abgründen, fällt in emotionale Löcher, fragt und bleibt immer wieder Antworten schuldig, lässt uns ratlos, auch bestürzt zurück. Daran hat vielleicht niemand so früh und so nachdrücklich erinnert wie Nikolaus Harnoncourt. Der aufregende Zyklus mit dem so fantastisch wie entfesselt spielenden Chamber Orchestra of Europe ruft das auch Jahrzehnte später überwältigend ins Gedächtnis. Immer wieder erzählen die Musikerinnen und Musiker des Orchesters, wie Nikolaus Harnoncourt sie ermuntert und aufgefordert habe, auch in der fragilen Konzertsituation Dinge auszuprobieren und Risiken einzugehen.

Infos zur CD

Franz Schubert:
Sämtliche Symphonien

Chamber Orchestra of Europe
Leitung: Nikolaus Harnoncourt

Label: ICA Classics

Sendung: "Piazza" am 12. Dezember 2020, 08:05 Uhr auf BR-KLASSIK

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